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Ed King

Ed King

Titel: Ed King Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Guterson
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Ich mache mir offen gesagt ernstlich Sorgen um ihre psychische Verfassung. Sie erinnern sich vielleicht, wie sie als Kind war, so überaus feinfühlig und emotional labil. Diese Dinge sind nach wie vor eine große Herausforderung für Tina, umso mehr nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters. Dennoch bin ich zuversichtlich, dass sie es schaffen wird. Sie ist eine sehr fleißige Studentin.
    Aber ich schreibe Ihnen nicht nur, um Sie über die Entwicklung meiner Kinder zu informieren. Meine Absicht ist vielmehr, auf Ihre Enthüllung, den Sommer 1962 betreffend, zu antworten. Lassen Sie mich vorausschicken, dass Walter 1973 eine Affäre mit einer anderen Frau hatte. Die Sache kam heraus, und wir gingen zur Eheberatung. Mit den Jahren lernten wir, mit dem Geschehenen umzugehen, und machten gemeinsam weiter, nicht ohne ein gewisses Maß an Glück. Nachdem dies gesagt ist, trifft es mich schwer zu wissen, dass Walter log, als er beteuerte, er habe nur diese eine Affäre gehabt und mich in der ganzen Zeit unserer Ehe kein weiteres Mal betrogen. Es schmerzt zu wissen, dass unser nachfolgendes gemeinsames Leben auf eine Lüge seinerseits gegründet war. Ich muss mich jetzt fragen, was er mir noch verheimlichte, und dies vergrößert meinen Schmerz so sehr, dass es mir momentan schwerfällt, mit meinem Leben weiterzumachen. Aber ich muss weitermachen. Und ich möchte Ihnen sagen, dass ich trotz aller Niedergeschlagenheit nach vorne schaue. Was geschehen ist, ist geschehen.
    Ms Burroughs, ich muss Ihnen sagen, auch wenn ich nicht ganz mit Ihrer Version der Ereignisse des Sommers 1962 übereinstimme, dass ichkein Problem mit Ihrer Verwendung des Ausdrucks »Vergewaltigungsopfer« habe. Es war eine Vergewaltigung, weil Sie in einem Dienstverhältnis zu Walter standen und deshalb seinen Annäherungen gegenüber in einer schwächeren Position waren, nicht anders als eine Sekretärin gegenüber ihrem Chef oder eine Studentin gegenüber ihrem Professor, den sie sexuell begehrt. In allen diesen Konstellationen ist der Ausdruck »Vergewaltigung« gerechtfertigt, weil die beiden den Akt vollziehenden Personen nicht auf einer Stufe stehen und nicht mit der gleichen Macht und dem gleichen Einfluss ins Bett steigen. Der eine Partner hat die Macht über den anderen, und so war es auch bei Walter und Ihnen. Schande über ihn. Dafür gibt es keine Entschuldigung.
    Dennoch bin ich mir sicher, dass Walter Sie nicht physisch gezwungen hat. Ich bin mir sicher, dass Sie einen gewissen Anteil daran hatten. Was wir beide als Vergewaltigung bezeichnen, mag auch Elemente einer schmutzigen Affäre zwischen einem verheirateten Mann und einem willigen und raffinierten Mädchen enthalten. Vielleicht einem jungen und sehr verunsicherten Mädchen, vielleicht einem Mädchen, das das Opfer der Umstände und ihrer Kindheit und Kultur und so weiter und so fort war, aber gleichwohl bleibt da das Element des freien Willens. Ich habe das Gefühl, Diane, wenn ich mich richtig an Sie erinnere, dass dies nicht einseitig war.
    Was die finanzielle Seite betrifft, so glaube ich, dass Walter nach sechzehneinhalb Jahren seine Pflicht voll und ganz erfüllt hat. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihren Sohn und hoffe, er wird es weit in der Welt bringen, aber was Walters Zahlungen angeht, damit ist es vorbei.
    Abschließend möchte ich sagen, dass Ihre Nachricht mich traurig gemacht hat, doch vermag jeder Schmerz uns zu läutern, und ich denke, diese traurige Enthüllung kommt zur rechten Zeit.
    Mit freundlichen Grüßen,
    Lydia Cousins
    Um ihren dreiunddreißigsten Geburtstag herum begann Diane über ein Facelifting nachzudenken. Gewisse Urlaubsaufnahmen drängten sie in diese Richtung, aber ausschlaggebend war zuletzt die Reise nach Lake Placid zu den Olympischen Winterspielen 1980, in die Long Alpine erhebliche Summen investiert hatte. Die trockene Luft dort wirkte verheerend auf ihren Teint, weil sie ihrer Haut so viel Feuchtigkeit entzog, dass mit Creme nicht mehr dagegen anzukommen war. Diane verbrachte Stunden vor ihrem Hotelzimmerspiegel und war deprimiert, weil ihre Kieferpartie durchhing und die Bänder an ihrem Hals hervortraten. Mit Parka und Mütze sah sie so sehr wie eine Frau mittleren Alters aus, dass sie nicht mehr mit den anderen zu den einzelnen Wettbewerben gehen wollte. Sie musste aber, wohl oder übel, weil es sonst ärgerliche Fragen gegeben hätte, und so stand sie mit einer riesigen Vuarnet-Sonnenbrille im Schnee und kam sich so einsam und verlassen

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