Ed Loy - 01 - Blut von meinem Blut
musste. Sie sah mich die ganze Zeit unverwandt an, nickte mit dem Kopf, und ihre riesigen Augen blieben ausdruckslos. Als ich geendet hatte, presste sie die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
»Und was, glauben Sie, hat das alles mit mir zu tun?« Ihre Stimme war wie ein Peitschenhieb.
»Er war doch Ihr Vater.«
»Und wennschon?«
Sie kniff die Augen zusammen, eine Mantille aus Qualm verhüllte ihr Gesicht. Sie war im Begriff, sich vor mir zu verschließen. Ich musste zu ihr durchdringen, und zwar schnell.
»Ich … mein Vater ist etwa zur selben Zeit verschwunden wie Ihrer. Seine Leiche wurde bisher zwar nicht gefunden, aber ich bin mir sicher, dass er tot ist und dass er von demselben Mann getötet wurde, der Kenneth Courtney umgebracht hat. Früher waren sie einmal alle die besten Freunde. Aber dann ist etwas passiert, und ich weiß immer noch nicht, was das war. Das will ich herausfinden. Sie können mir vielleicht dabei helfen. Ich brauche Ihre Hilfe.«
Eine Art menschlicher Regung kräuselte Gemma Courtneys volle Lippen und flackerte in ihren Augen auf. Sie atmete mehrmals tief ein und aus, als würde sie sich zu einer Entscheidung durchringen. Plötzlich rieb sie heftig die Handgelenke aneinander, als wollte sie die Haut abschaben. Und dann, während sie weiter mit dem Kopf nickte, mit den Füßen wippte und mich mit blitzenden Augen durch den Qualm hindurch ansah, der ihren blonden Kopf umhüllte, brach alles aus ihr heraus – Worte, die klangen, als warteten sie schon seit Jahren darauf, ausgesprochen zu werden.
»Kenneth Courtney war nicht mein Vater, zumindest nicht so, dass es zählt. Ich kannte ihn gar nicht. Er hat uns verlassen, als ich noch ein Baby war, und meine Ma musste allein zurechtkommen. Das hat sie nicht gepackt. Sie ist dran kaputtgegangen. Wir hatten damals noch ein Haus. Ich weiß das nicht mehr, aber Ma hat immer daran gedacht, ein richtiges Haus, in der Nähe der South Circular. Ma hat natürlich einen Nervenzusammenbruch gehabt, als Courtney abgehauen ist, und hat die Hypothek nicht weiterzahlen können. Sie hat das Haus verloren, dann mussten wir vom Sozialamt irgendwo untergebracht werden. Eine sitzen gelassene Mutter mit Kleinkind steht natürlich ganz oben auf der Liste. Die Siedlung hier war gerade neu gebaut worden, hübsche, neue Häuser, viel Grün, also haben sie einen Haufen Leute von ganz oben auf der Liste hierher gekarrt. Blöd war nur erstens, dass zu viele Familien dabei waren, die wegen unsozialem Verhalten aus anderen Sozialwohnungen rausgeflogen sind. Die Idee war: Tun wir die doch hierher, solange alles noch neu ist und sich keiner beschweren kann. Und damit war’s hier schon mal wie im Zoo. Blöd war zweitens das billige Heroin, damals wie heute, das geht hier rum wie die Sense im Kornfeld. Und blöd war drittens: Selbst wenn erstens und zweitens nicht gewesen wären, wäre meine Ma mit einem Ort nicht klargekommen, wo man die Nachbarn durch die Wände flüstern hört, nur dass die eben nie flüstern. Sie hatte ein besseres Leben verdient, hat die Schande nicht ertragen. Sie war echt nicht die Einzige hier, die Pillen geschluckt hat, hier gibt es immer noch diese Frauen, die mittags im Bademantel rumhocken, auch bei dem ganzen tollen Wirtschaftsboom. Aber Ma hat die anderen immer merken lassen, dass sie eigentlich was Besseres ist, und die haben sie ›Madame Großkotz‹ und ›Prinzesschen‹ genannt. Alles nur Spaß, haben sie zumindest behauptet, aber ihr haben sie damit nur Salz in die Wunde gestreut: Wenn du so toll bist, warum bist du dann hier bei uns? So bin ich aufgewachsen, das Mädchen mit der verrückten Mutter, das Mädchen, das sich für Gott weiß was hält, Prinzessin Supertoll, alles nur Spaß, alles nur Spaß. Ich habe gelernt, mich für sie zu schämen, ihre Krankheit als Schwäche zu sehen und sie dafür zu hassen. Natürlich habe ich mir gewünscht, mein Dad hätte uns nie verlassen, aber ich konnte auch verstehen, warum er’s getan hat. Aber das zu verstehen war verboten. Und jetzt kommen Sie und erzählen mir, er wurde ermordet. Soll mir das jetzt Leid tun oder was? Er hat meine Ma schon vorher verlassen, er war schon lange weg, bevor ihm was passiert ist.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte ich.
»Er hat ihr einen Brief geschrieben. Darin sagt er, dass es ihm Leid tut, aber dass er nicht anders konnte. Und er sagt, er würde irgendwann versuchen, das wieder gutzumachen.«
»Haben Sie den Brief noch?«
Sie musterte mich
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