Ed Loy - 01 - Blut von meinem Blut
viel Energie. Darum hat man von ihr mehr gekriegt als von den anderen heiligen Jungfrauen in den Villas. Sie hat sich vögeln lassen, während man von den anderen nicht mal einen ordentlichen Kuss bekam. Aber ganz tief drinnen, unter der ganzen Schönheit, war sie verdorben. Und das ist sie immer noch. Wenn das so tief im Blut sitzt, kann man nicht entkommen.«
Das war der Augenblick, in dem ich wusste, was passieren würde, noch bevor es passierte. Ein Augenblick, in dem Barbara Dawsons Gesicht durch die Zeit zurückzuwandern schien, bis es wieder das tränenverschmierte Gesicht des verletzten, getroffenen Kindes war, das eine weitere Demütigung ertragen musste. Ein Augenblick, der Barbaras Weg von Fagan’s Villas auf den Hügel in Castlehill genau dort enden ließ, wo er begonnen hatte.
Barbara Dawson schoss dreimal auf Kenneth Courtney. Die beiden ersten Kugeln durchschlugen seine Brust, die dritte traf ihn in der Kehle. Ein Schwall von Blut schoss ihm aus dem Nacken. Wenige Sekunden nachdem er zu Boden gegangen war, war er tot.
Sie stand auf und drehte sich zu mir um, mit blitzenden Augen und einem wilden Zug um den Mund.
»Bin ich nicht«, sagte sie und schüttelte dabei den schönen Kopf. »Bin ich nicht. Bin ich nicht. Bin ich nicht.«
Sie wiederholte es immer wieder, ein Klagelied der Scham, der Verweigerung, der Ablehnung … wovon? Ihrer Herkunft? Ihres Lebens? Es ging immer weiter: Bin ich nicht. Bin ich nicht. Bin ich nicht.
Draußen hallten am zweiten Tag in Folge die Martinshörner der Einsatzwagen von den Hängen rund um Castlehill wider. Ich stand auf und ging zur Tür.
»Wo willst du hin?«, fragte sie.
»Nach Hause«, sagte ich.
Ich stand an der Tür, die in die Diele hinausführte.
»Ich bin Barbara Dawson. Ich bin zu Hause«, sagte Barbara ins Leere hinein. »Ich bin Barbara Dawson. Das hier ist mein Zuhause.«
Ich hörte den Schuss, aber ich blieb nicht stehen. Es gab ein dumpfes Geräusch, wie von einem Mantel, der zu Boden fällt. Ich ging durch die Diele, vorbei an Barbaras imaginären Vorfahren, und trat durch die Haustür hinaus in den Nebel und das Licht des Tages.
Achtundzwanzig
Sie waren alle da: Detective Inspector Reed und Detective Sergeant Donnelly von der Polizei in Seafield, DI O’Sullivan und DS Geraghty vom NBCI und jede Menge Uniformen. Nach einem kurzen Blick ins Haus zückten sie auch schon das Absperrband und sicherten den Tatort. Während sie auf die Forensiker aus Seafield und die staatlichen Pathologen warteten, standen wir alle im Vorgarten, und ich berichtete, was passiert war. Mein Treffen mit George Halligan ließ ich aus. Geraghty unterbrach mich immer wieder und versuchte, mich in Widersprüche zu verstricken, bis O’Sullivan ihm schließlich sagte, er solle den Mund halten. Andernfalls hätte Dave Donnelly ihm vermutlich eine reingehauen. Danach beschränkte Geraghty sich darauf, mürrische Grimassen zu schneiden und mir böse Blicke zuzuwerfen, um mich damit aus der Ruhe zu bringen. Aber verglichen mit dem, was ich gerade erlebt hatte, war Myles Geraghty reiner Kinderkram. Als ich fertig war, wurden zwei Polizisten beauftragt, mich aufs Polizeirevier in Seafield zu bringen, wo ich eine offizielle Aussage machen sollte. DI O’Sullivan, ganz Führungskraft, versicherte mir, man werde mich über die verschiedenen Möglichkeiten einer psychologischen Betreuung informieren. Das war zu viel für Myles Geraghty. Er schnaubte verächtlich, drehte sich auf dem Absatz um und stiefelte voller Entrüstung die Einfahrt hinunter – allerdings nicht, ohne vorher zu murmeln: »Psychologische Betreuung? Lieber ’n ordentlichen Tritt in den Arsch.«
Aus irgendeinem Grund erheiterte mich diese Bemerkung ungemein, weil sie einer Welt zu entstammen schien, in der Probleme noch einfach gelöst werden konnten. Während ich in dem großen, baumbestandenen Garten darauf wartete, dass mich die beiden Beamten einsammelten, ertappte ich mich dabei, mich wehmütig nach dieser Welt zu sehnen, nach einer Zeit und einem Ort, wo nichts so gravierend war, dass es nicht mit einem ordentlichen Tritt in den Arsch geregelt werden konnte. Dave Donnelly sagte mir ein paarmal, er müsse dringend mit mir reden, aber ich vertröstete ihn auf später. Ich hatte jedes Gefühl von Dringlichkeit verloren. Wer sollte jetzt noch sterben? Es war ja keiner mehr übrig.
Auf dem Polizeirevier fertigten sie mich rasch ab: Meine Aussage wurde aufgenommen, ich wartete, bis sie abgetippt war, und
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