Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
das
exotische Kreischen der Großsittiche, Wiesbadens grasgrüne Migranten, die ihre Küken
in den Höhlen der Platanen aufzogen und den härtesten Wintern trotzten. Die frische
Luft machte Norma wach, und die Beine fanden ihren Rhythmus. Am Rheinufer trabte
sie flussaufwärts. Der Verkehrslärm donnerte ihr von der Schiersteiner Brücke entgegen
und trübte für ein kurzes Wegstück die Idylle der Grünanlagen. Norma stellte die
Ohren auf Durchzug, als hoch über ihr die Autobahn dröhnte, und schlug die Strecke
rund um den Schiersteiner Hafen ein. An der Abzweigung hielt sie sich links und
folgte der Uferlinie der Landzunge, die das Hafenbecken vom Rhein trennte. Bald
tauchte hinter den Pappeln der hohe Bogen der Dyckerhoff-Brücke auf. Sie überwand
die steile Rampe langsamer und warf dabei einen Blick auf das Wiesenstück, auf dem
sie mit Benni gerungen hatte und das nun in friedlicher Einsamkeit unter ihr lag.
Der Hafen empfing mit frühmorgendlicher Ruhe den Tag. Sachte schaukelten die Segeljachten
an ihren Liegeplätzen. Ein Storchenpaar zog im Himmelblau lautlose Kreise. Die Möwen
ruhten sich aus, und in der Stille erinnerte nichts an die Trommelschläge der voranjagenden
Drachenboote vom vergangenen Sonntag.
Am Ufer
gegenüber blitzte ein blaues Licht auf. Norma stoppte am Brückenende, von dem aus
man über das Hafenbecken hinweg auf das dahinterliegende Städtchen blicken konnte.
Das Blaulicht schien auf der Promenade zu blinken. Polizei oder Feuerwehr? Um das
zu erfahren, müsste sie das westliche Ende des Hafenbeckens umrunden. Sie trottete
die Rampe hinunter, trabte am Yachtcafé vorbei und setzte den Weg in zügigem Tempo
fort, bis sie die Uferpromenade erreichte, an der sich Bootssteg an Bootssteg reihte.
Zwischen den Platanen standen zwei Polizeiautos. Das Blaulicht fing sich in den
Baumkronen. Die Wagen wurden umringt von Hundeleuten, Joggern und anderen Frühsportlern,
die ihre Aktivitäten kurzfristig eingestellt hatten. An einem Steg war das Boot
der Wasserschutzpolizei vertäut. Zwei Schutzpolizisten hielten die Leute am Ufer
zurück. Am Kai standen weitere Uniformierte und umringten im engen Kreis eine graue
Wolldecke, die vor ihnen auf dem Pflaster lag. Darunter zeichnete sich die Gestalt
eines Menschen ab. Ringsum reckten sich Arme in den Sommerhimmel. Schaulustige hielten
ihre Handys über die Köpfe, und es würde keine Stunde dauern, bis die Internetwelt
zuschauen könnte. Norma sah sich nach jemandem um, der weder filmte noch fotografierte,
und sprach eine Frau an, die ihre Walking-Stöcke umklammerte und sich den Hals verrenkte,
um zwischen den anderen Leuten hindurchzuspähen.
»Was ist
los?«
Die Frau
warf ihr einen flüchtigen Blick zu, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen
am Ufer schenkte. »Da hat man jemanden aus dem Wasser gezogen. Genaues kann ich
nicht erkennen, man lässt uns nicht durch. He, wieso darf der Mann so dicht ran?«
Ihre Empörung
galt einem korpulenten Herren, der sich energisch den Weg durch die Umstehenden
bahnte: Ein Schwergewicht in verwaschenen Jeans und einem zeltartigen Hemd.
»Der ist
wohl von der Presse«, vermutete die Frau.
»Nein, von
der Polizei!«, entgegnete Norma.
Wieder ein
Blick, der dieses Mal haften blieb. »Von der Kripo, meinen Sie?«
»Exakt!«
»Woher wollen
Sie das wissen?«
»Mit der
Polizei habe ich öfter zu tun.«
Die Frau
rückte einen Schritt beiseite und blinzelte misstrauisch. »So?«
Norma reagierte
mit einem Lächeln. »Schönen Tag noch!«
Sie zog
sich zurück, schlug einen Bogen um die Leute und fiel wieder in Trab. Auf der Hafenstraße
näherte sich ein Polizeiwagen im Schritttempo und setzte einen Mann ab, an dessen
hagerer Gestalt ein helles Sommersakko schlotterte. Die Krawatte hatte er wegen
der Sommerhitze offensichtlich weggelassen. Dürr ragte der Hals aus dem offenen
Hemdkragen heraus.
Er hatte
sie entdeckt und kam eilig auf sie zu. »Norma! So eine Überraschung. Gut siehst
du aus!«
Im Gegensatz
zu dir, Dirk Wolfert, lag ihr auf der Zunge. Als sie noch Kollegen im Wiesbadener
Polizeipräsidium gewesen waren, hatte er schon zu wenig auf den Rippen gehabt. Nun
schien er jedes Mal, wenn sie sich trafen, an Substanz eingebüßt zu haben.
»Man hat
einen Toten aus dem Rhein gefischt?«
Er warf
einen zaudernden Blick auf die Menschenansammlung, als scheute er davor zurück.
»Die Leiche hat sich an einem Anleger verfangen. Mehr weiß ich selbst noch nicht.
Immer wieder dieses Sterben. Dieses
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