Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
Augenblick die verbliebene Kindlichkeit auf, die man unter der
dicken Schminke und der wirren Turmfrisur sonst nur erahnen konnte. Sie würde fürs
Erste bei Colette, einer Freundin ihrer Mutter, wohnen.
»Arbeitest
du gerade an einem krassen Fall? Ein vor Eifersucht irrer Ehemann oder so was?«
Das Wasser
begann zu brodeln. Norma griff nach dem Wasserkocher. »Die letzte Anfrage habe ich
abgelehnt. Ehepartner zu beschatten, ist nicht mein Ding.«
»Wäre auch
abgrundtief unter deinen Fähigkeiten. So gut wie du ist kein anderer Detektiv, Norma.
Wer wüsste das besser als ich. Wenn du nicht gekommen wärst, ich wäre tot!«
Weinend
fiel sie Norma um den Hals, die sich beeilte, den Wasserkocher zurückzustellen,
und wie so oft von Ninas Stimmungsschwankungen überrascht wurde. »Der Typ wollte
mich töten, ich war wie gelähmt. Du hast mich ins Auto gezogen, in Sicherheit geschleppt
hast du mich. Er war uns so dicht auf den Fersen …«
Die Stimme
ging in Schluchzen unter. Nina hatte Todesängste ausgestanden, als sie von dem gesuchten
Mörder verschleppt worden war. Norma war es gelungen, den Mann im Wald aufzuspüren
und das Mädchen zu befreien. Nina war wie besessen von der Entführung und wollte
trotzdem ausschließlich mit Norma darüber reden. Weil Norma sie als Einzige verstehen
könne. Weil sie wisse, was geschehen sei. Und was hätte geschehen können. Norma
hatte in der Tat eine Vorstellung davon, was in Nina vorging. Vor Jahren war sie
in eine ähnliche Situation geraten, als sie und Arthur in Kolumbien in die Hände
einer Bande geraten waren. Sie wusste, wie es sich anfühlt, einem Mörder ausgeliefert
zu sein. Ninas Entführer saß mittlerweile in Untersuchungshaft und sah seinem Prozess
entgegen.
»Paris bringt
dich auf andere Gedanken«, flüsterte sie Nina ins Ohr, wobei ihr deren herbes Parfüm
in die Nase stieg. »Die Modeschule, neue Freundschaften, das wird dich ablenken.«
»Mais oui,
Madame!« Nina befreite sich und fuhr sich schniefend mit der Hand durchs Gesicht.
»Du siehst
aus wie ein Gespenst«, stellte Norma fest. »Wer heult, darf sich nicht schminken.«
Nina grinste
frech. »Bin gleich wieder da!«
Mit dem
Rucksack verschwand sie im Bad. Norma wusste, das würde dauern, und sie könnte inzwischen
einen Blick in die Postsendung werfen. Sie suchte in der Schublade nach einer Schere
und schnitt die Klebestreifen auf. Vorsichtshalber ein Blick zur Tür, bevor sie
den Deckel aufklappte, unter dem ein Stück Pappe steckte. Norma fuhr mit der Scherenspitze
darunter. Sie hob den Pappstreifen an und hielt, während sie sich tiefer über das
Päckchen beugte, die Luft an. Was unnötig war. Mit Leichengeruch, an den sie sich
als Polizistin niemals hatte gewöhnen können, musste sie nicht rechnen. Knochen
rochen nicht nach Tod. Jedenfalls nicht, wenn die anhaftenden Haut- und Fleischfetzen
mumifiziert waren. Es war ein rechter Unterarm mitsamt der Hand. Genauer: Das, was
davon übrig geblieben war. Schmutzig graue Fingerknochen, die vielen Knöchelchen
des Handgelenks. Sie wirkten seltsam verformt. Neben den geschrumpften Überbleibseln
von Muskeln ließen sich Reste von Sehnen erkennen. Zarte, eingetrocknete Schnüre,
nutzlos gewordene Überreste einer Männerhand, wie Norma aus der Länge und dem Umfang
der Knochen schloss.
Im Flur
fiel die Badtür ins Schloss. Norma schlug den Deckel herunter, als Nina in die Küche
zurückkehrte; mit bleicher Haut und tiefschwarzem Lidschatten frisch für die Geisterbahn
hergerichtet.
»Na, guter
Stoff?«, fragte sie schnippisch.
»Vielversprechend!«
Nina warf
sich den Rucksack über die Schulter. »Ich geh dann mal.«
»Und mein
Füller?«
Der Rucksack
klatschte auf den Boden. Der schwarze Haarturm geriet in Bewegung. Nina bückte sich
und kramte den Federhalter heraus. »Da! Ohne Tinte schreibt das Teil sowieso nicht.«
»Warte mal!«
Norma nahm
das Päckchen mit ins Schlafzimmer, stellte es auf dem Fußboden ab und suchte in
der Schublade nach dem Tintenfass, das Nina übersehen hatte. Als sie zurückging,
wartete das Mädchen ungeduldig im Treppenhaus.
»Hier! Behalte
den Füller und nimm die Tinte dazu. Zeichne damit deine Entwürfe. Und denke dabei
an die alte Norma.«
»Ich schicke
dir Mails und SMS, versprochen.«
Sie fielen
sich in die Arme.
»Ich heule
nicht«, entschied Nina tapfer. »Mein Make-up.«
Gleich darauf
war sie fort. Die Schritte verklangen im Treppenhaus. Die kleine Kratzbürste würde
ihr fehlen! Norma wischte
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