Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
Norma die Telefonnummer
der Dame mit der dunklen Stimme. Tonja Pollay war von der Reise heimgekehrt. Was
die Öffentlichkeit über Angela Bennefeld wissen sollte, sei in ihrem Zeitungsartikel
nachzulesen. Alles andere ginge die Allgemeinheit nichts an. Nicht die Allgemeinheit,
konterte Norma, wohl aber eine private Ermittlerin, die beauftragt sei, sich über
Angelas Todesursache Gedanken zu machen.
Schweigen
auf der Gegenseite, bis sich die Stimme mit deutlichem Unwillen wieder hören ließ:
»So schlecht sind meine Kontakte zur Staatsanwalt nicht, dass ich denen nicht trauen
dürfte. Dort sagte man mir, Angela sei ertrunken. Gemeinsam mit ihrem unseligen
Gefährten Nemiroff, von dem Sie gehört haben dürften.«
»Ich bezweifle
nicht, dass Angela ertrunken ist. Ich will herausfinden, ob Nemiroff der Alleinschuldige
ist.«
»Hmm.«
»Wie bitte?«
Pause. War
die Dame noch dran? Endlich kam die Frage nach Normas Auftraggeber.
»Elisa Bennefeld,
Angelas Stiefmutter.«
Ein kurzes,
skeptisches Schnaufen. »Also gut, treffen wir uns im Café der Villa Clementine.«
Die Villa
Clementine, eines der zahlreichen Beispiele für Wiesbadens Gründerzeitvillen, beherbergte
das Wiesbadener Literaturhaus. Der Architekt hatte das Gebäude gleich mit zwei von
Säulen getragenen Hauptfassaden bedacht. Die Villa lag im Winkel zwischen Wilhelmstraße
und Frankfurter Straße. Der Eingang zum Café befand sich von der ›Rue‹ abgewandt
auf der Rückseite. Ein herrschaftlicher Treppenaufgang führte Norma hinauf in den
ersten Stock und mitten hinein in die repräsentative Innenausstattung des ausgehenden
19. Jahrhunderts; mit kostbaren Wandbespannungen und pompösem Stuck unter überhohen
Zimmerdecken. Ungeachtet der frühen Morgenstunde war das Café bestens besucht. Sie
hielt Ausschau nach ihrer Verabredung und entschied sich für eine große, wuchtige
Frau mit weich fallendem, ergrautem Haar. Vor ihr auf dem Bistrotisch stand ein
aufgeklappter Laptop. Die von auffälligen Ringen besetzten Finger hielten nur inne,
um nach der Teetasse zu greifen.
Die Dame
blieb ins Schreiben versunken, bis Norma sie ansprach, und warf einen Blick auf
die Armbanduhr. »Pünktlich auf die Minute! Ich mag es, wenn man verlässlich ist.
Setzen Sie sich, Frau Tann!«
Norma zog
sich einen Stuhl heran. »War Angela Bennefeld verlässlich?«
»Sie meinen,
ich könnte das beurteilen?«
Norma gab
das Lächeln zurück. »Sie müssen Angela gut gekannt haben. Der Nachruf klang sehr
persönlich.«
Tonja Pollay
klappte den Laptop zu. »Stimmt beides. Wir waren seit Langem befreundet. Und ja,
Angela war sehr verlässlich. Akribisch und pflichtbewusst. Oftmals zu pflichtbewusst.«
»Darf ich
fragen, woher Sie sich kannten?«
Ȇber die
Arbeit sind wir zusammengekommen.« Sie winkte der Bedienung. »Noch einen Tee, bitte.
Möchten Sie auch etwas?«
Norma entschied
sich wie so oft für Milchkaffee.
Sie habe
für die politischen Redaktionen bedeutender Zeitungen gearbeitet, erzählte Tonja
Pollay. »FAZ, Spiegel, Welt, Süddeutsche, um nur einige zu nennen. Jetzt bin ich
in Rente und schreibe zu meinem Vergnügen für die Wiesbadener Lokalredaktionen.
Und das am liebsten hier im Café. Ich liebe die Atmosphäre der Villa. Wussten Sie,
dass im Juli 1888 einer serbischen Königin in diesem Haus per Polizeigewalt der
kleine Sohn entrissen und dem königlichen Ehemann ausgeliefert wurde? Einem Mann,
den die Königin aus vermutlich guten Gründen verlassen hatte.«
»Der Wiesbadener
Prinzenraub. Davon habe ich gehört, eine wahrhaftige Familientragödie.«
»Mit politischen
Dimensionen! Das hat mich seit jeher fasziniert: Was die Politik aus den Menschen
macht. Auch Angela haben die Personen hinter dem Fall immer mehr bedeutet als der
Fall selbst. Wir sind uns zum ersten Mal Anfang der 1990er-Jahre begegnet. Angela
war Referendarin am Wiesbadener Landgericht, das zu der Zeit in diesem imponierenden
Gebäude in der Gerichtsstraße untergebracht war. Übrigens auch ein wunderbares Haus
mit einer abwechslungsreichen Geschichte. Es ist ebenso alt wie die Villa Clementine.«
Norma kannte
das ehemalige Landgericht aus ihrer Zeit als Kommissarin. Inzwischen waren die Wiesbadener
Gerichte in einen Neubau in der Mainzer Straße umgesiedelt.
Ob sie von
dem Glykolskandal im Jahr 1985 gehörte habe, fragte Tonja Pollay unvermittelt.
Norma lächelte
verwundert. »Das Thema verfolgt mich. Neulich wurde bei einem Weinseminar dieses
sogenannten Weinpapsts darüber
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