Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
Gelenksknöchelchen.
Weitgehend vollständig, wenn ich das auf die Schnelle richtig beurteile. Höchst
interessant, diese Überreste von Sehnen und Haut an den Knochen …«
Ein Rumpeln
hinter ihm unterbrach seine Ausführungen. Norma hatte sich auf einen Stuhl fallen
lassen.
Er fuhr
herum und musterte sie besorgt. »Ist Ihnen nicht gut, Frau Tann?«
Sie presste
die Fingerspitzen gegen die Schläfen, um das Schwindelgefühl im Zaum zu halten.
»Zu wenig Schlaf und etwas Übelkeit.«
»Augenblick,
Frau Tann!«
Er verschwand
in einem Nebenraum und war im Handumdrehen mit zwei Gläsern zurück. »Grappa! Ein
Geschenk vom Chef. Zum Wohl!«
Der Alkohol
glitt ihr ölig die Kehle hinunter und wärmte den Magen. Der Schwindel blieb, fühlte
sich immerhin besser an.
»Noch einen?«
Frywaldt hielt ihr die Flasche hin.
»Lieber
nicht. Ich habe noch nichts gegessen.«
»Das lässt
sich ändern!«
Wieder eilte
er davon und erschien gleich darauf mit einem Kuchenteller. Eine Kollegin habe Geburtstag
gefeiert, und vom Nusskuchen sei genug übriggeblieben. Norma war nicht nach Süßem,
brauchte aber eine Zugabe zum Schnaps. Und so schlecht schmeckte der Kuchen gar
nicht.
Auch Frywaldt
griff zu. »Noch einen Grappa, Frau Tann?«
»Danke,
nein. Mir geht es besser, und das soll so bleiben.« Sie schluckte die letzten Kuchenkrümel
hinunter und deutete auf die akkurat aufgereihten Knochen. Frywaldt hatte die Oberschenkelhälften
passend aneinander gelegt. Etwas an dem Anblick irritierte sie.
»Die Oberschenkel
sehen verbogen aus«, sagte Norma.
Frywaldt
nickte bestätigend. »Die Deformationen sind außerordentlich bemerkenswert. Diese
säbelartige Form der Oberschenkelknochen.«
»Steht das
im Zusammenhang mit den verkrüppelten Fingern?«
Er setzte
sich ihr gegenüber auf die Schreibtischplatte und schlug die Beine übereinander,
die in weiten Cordhosen steckten. »Ich hatte bereits eine Vermutung, als ich die
Handknochen untersucht habe. Zunächst muss ich mir die Oberschenkel genauer ansehen.
Trotzdem bin ich ziemlich sicher: Der Mann litt an Osteodystrophia deformans.«
Man nenne
die Krankheit auch das Paget-Syndrom, erklärte er, benannt nach einem englischen
Mediziner. Männer seien häufiger betroffen als Frauen. Es finge meistens im Alter
zwischen 40 und 60 an, beginne mit Kopfschmerzen und leichten Lähmungen. »Die Knochen
verdicken und verformen sich und werden irgendwann brüchig. Es können die Hände
betroffen sein, die Wirbelsäule, die Beine. Im Prinzip kann jeder Knochen erkranken.«
Gruselig,
würde Nina auch dazu sagen. »Das klingt unangenehm.«
»Nun ja,
am Anfang kommt es zu Entzündungen, und die sind schmerzhaft. Dagegen kann man mit
Medikamenten vorgehen. Oft wird die Krankheit eher zufällig diagnostiziert, wenn
der Patient für irgendeine Diagnose geröntgt werden muss.«
»Also war
unser unbekannter Freund«, sagte Norma nachdenklich, »über 40 und litt unter Entzündungen
des Skeletts. Mit der Zeit wurde er immer krummbeiniger. Was würde Ihre Theorie
wasserdicht machen?«
»Ich müsste
den Schädel haben! Die Gesichtsknochen haben vermutlich an Umfang und Masse zugenommen,
was sich bei seinem Besitzer mit Schwerhörigkeit bemerkbar gemacht haben könnte.
Der Kopf wird hoffentlich mit der nächsten Sendung kommen. Vielleicht zusammen mit
den Rippen?«, schloss er zuversichtlich.
Norma hob
angewidert die Hände. »Ich habe genug von dieser Knochenpost.«
Frywaldt
stand auf und umkreiste mit kurzen Schritten den Metalltisch. Unversehens hielt
er inne und warf ihr einen wachen Blick zu. »Die Postschalter werden sicherlich
gefilmt?«
Sie wippte
mit der Rückenlehne. Der Grappa verlieh allem Tun eine leichtsinnige Ungezwungenheit.
»Die Überwachungsbänder, die ich wegen des ersten Pakets durchgesehen habe, sind
für die Katz. Keine der Personen ist polizeibekannt. Felix, der Praktikant, hat
das penibel überprüft. Hoffentlich haben wir mit diesem Päckchen mehr Glück. Ich
habe den Barcode sofort an Felix durchgegeben. Er ist schon dran und will zusehen,
dass die Bänder am Montag vorliegen.«
»Emsig,
der junge Mann! Sogar am Wochenende.«
Sie zuckte
mit den Schultern. »Er ist ehrgeizig und spielt mit Feuer und Flamme Detektiv. Nicht
anders als Sie und ich!«
Frywaldt
lächelte bekümmert. »Meine Frau hat sie gehasst, diese Wochenenden, an denen ich
Dienst hatte und mich in irgendwelche Indizien vergrub. Aus Langeweile ist sie mit
dem Hund in den Wald gegangen. Wo ihr dieser
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