Edelweißpiraten
Vorgesetzten!«
»Eine Schande ist das, wie man hier behandelt wird! Das sollte man in die Zeitung setzen!«
»Jahrelang hält man in der HJ den Kopf hin, und dann das!«
»Verstehen Sie das vielleicht unter Volksgemeinschaft?«
Minutenlang haben wir ohne Punkt und Komma auf ihn eingeredet, bis er nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf steht. Dann sind wir auf ein Zeichen von Flint losgelaufen, auf unsere Räder gesprungen, und es ging ab durch die Mitte. Der arme Kerl war so verwirrt, dass er nicht mal daran gedacht hat, wenigstens einen von uns festzuhalten.
Heute im Betrieb musste ich noch ’n paarmal drüber lachen. Andererseits: Zu dolle sollten wir’s auch nicht treiben. Die werden das nicht ewig hinnehmen. Was, wenn sie demnächst mit ’nem ganzen Trupp kommen? Sich gar nicht erst mit Reden aufhalten, sondern gleich ihre Waffen ziehen und uns einkassieren? Dann
ist unsere Tarnung dahin. Dann wissen sie, wer wir sind, wo wir wohnen und wo wir arbeiten.
Ja! Vielleicht sollten wir vorsichtiger sein. Ich muss mit den anderen darüber reden.
4. September 1941
Horst hat aus Sonthofen geschrieben. Er beschwert sich, in meinem letzten Brief hätte nur komisches Zeug gestanden. Nichts, womit man was anfangen kann. Was natürlich stimmt. Ich hab mich immer noch nicht getraut, ihm zu sagen, dass es aus ist mit der HJ. Deshalb hab ich zuletzt nur dummes Blabla geschrieben.
Ehrlich gesagt, hab ich Angst davor, dass er’s erfährt. Weil ich weiß, wie enttäuscht er dann ist. Und irgendwie ist mir seine Meinung immer noch die wichtigste. Na ja, neben der von Tom und Flint natürlich.
Seit vier Jahren ist er jetzt unten in Bayern. Ich erinnere mich noch gut, wie’s angefangen hat. Musste dran denken, als ich heute seinen Brief gelesen hab. Einer von der HJ ist damals zu meinen Eltern gekommen, ein ziemlich hohes Tier. Er hat ihnen von den Adolf-Hitler-Schulen erzählt, die damals gegründet wurden. Dass da nur die Allerbesten hingeschickt werden. Die »Elite des kommenden Reiches«. Und dass Horst dafür auserwählt ist.
Meine Eltern wussten erst nicht, was sie davon halten sollen. Unser Horst auf so ’ne Eliteschule? Aber in dem Fall spielt die Herkunft anscheinend keine Rolle. Horst ist die totale Sportskanone. Und außerdem sieht er so aus, wie sich die Nazis ’n echten Arier vorstellen: blond, drahtig und mit stahlblauen Augen. So wie die Jungs auf den Plakaten. Deswegen wollten sie ihn unbedingt haben.
Wenn er’s schafft auf dieser Schule, dann steht ihm alles offen, hat der Typ von der HJ erzählt. Alle Laufbahnen in Staat und Partei,
bis ganz nach oben. Was bedeutete, dass Horst – als Erster überhaupt aus unserer Familie – die Chance bekam, was anderes zu tun, als sich sein Leben lang in düsteren Fabriken den Rücken krumm zu schuften. Als meine Eltern das gehört haben, konnten sie nicht anders: Sie haben zugestimmt – obwohl sie sonst nicht viel mit den Nazis zu tun hatten. Und so ist Horst auf die Ordensburg Sonthofen gegangen. Im Frühjahr 37. Zur gleichen Zeit, als Tom und ich in die HJ gekommen sind.
Seitdem seh ich ihn grade mal noch eine Woche im Jahr. Öfter darf er nicht nach Hause, und wir dürfen ihn überhaupt nicht besuchen. Was das angeht, sind die total streng.
Ich weiß noch, wie er nach seinem ersten Jahr zu Besuch gekommen ist. Ich hatte grade in der HJ meine Pimpfenprobe bestanden, war jetzt Junggenosse und hab mich richtig erwachsen gefühlt. Aber kaum ist Horst am Bahnhof aus dem Zug gestiegen, bin ich mir gleich wieder ganz mickrig vorgekommen. Er sah so gut aus in seiner Uniform, so groß und stark. »Kleiner« hat er mich genannt. Das war aber nicht überheblich gemeint. Ich hab gemerkt, dass er sich wahnsinnig freut, mich wiederzusehen.
Nur unseren Eltern gegenüber ist er ziemlich kühl gewesen. Er wollte nicht, dass Mutter ihn umarmt. Und Vater hat er kaum beachtet. Es war deutlich zu spüren, dass er sich von ihm nichts mehr sagen lassen will. Sich ihm überlegen fühlt. Erst hat mich das verwirrt. Aber dann war ich fasziniert davon.
Abends, als die Alten schliefen, haben wir uns zusammengehockt und konnten endlich über alles reden, ohne dass einer zuhört – so wie früher. Horst war total stolz auf mich. Wegen meiner bestandenen Probe. Ich musste ihm alles erzählen, bis in die letzten Kleinigkeiten. Meine Eltern hatten sich nicht groß dafür interessiert. Bei Horst war’s anders. Er hat sich gefreut, als wär’s seine eigene Prüfung.
»Du machst das
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