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Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Titel: Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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wenn Sie zugesehen hätten, wie geschickt ich meinen Kopf hineinsteckte. Ich bewegte ihn nur ganz, ganz langsam, um den alten Mann nicht im Schlaf zu stören, und es dauerte eine Stunde, bis ich ihn so weit hatte, daß ich den Alten auf seinem Bette konnte liegen sehen. Haha! – würde ein Wahnsinniger so klug gehandelt haben? Und dann, wenn mein Kopf ganz im Zimmer war, öffnete ich vorsichtig die Laterne – o, ganz vorsichtig, damit die Scharniere nicht knackten – ich öffnete sie nur so weit, daß ein einziger dünner Lichtstrahl auf sein Geierauge fiel. Und das tat ich sieben lange Nächte hindurch – jede Nacht um zwölf Uhr –, aber ich fand sein Auge immer geschlossen. Und so war es mir unmöglich, meinen Entschluß auszuführen, denn es war ja nicht der alte Mann, der mich quälte, sondern sein böses Auge. Und jeden Morgen, wenn es hell wurde, ging ich kühn in sein Zimmer und sprach freimütig mit ihm. In herzlichem Ton nannte ich ihn bei seinem Namen und fragte ihn, wie er die Nacht verbracht hätte. Sie begreifen wohl, daß er ein wirklich gründlich kluger alter Mann hätte sein müssen, um zu vermuten, daß ich ihn jede Nacht genau um zwölf Uhr im Schlafe beobachte.
    In der achten Nacht war ich noch vorsichtiger als sonst beim Offnen der Tür. Der Minutenzeiger einer Uhr bewegt sich schneller, als es meine Hand tat. Nie zuvor war ich so meiner Fähigkeiten, meiner Klugheit bewußt gewesen als in dieser Nacht. Ich konnte mich kaum enthalten, meinem Triumphgefühl Ausdruck zu geben. Man denke, daß ich es war, der Zoll um Zoll die Tür öffnete, während er nicht einmal von meinen Taten und Plänen träumte. Ich kicherte unwillkürlich bei diesem Gedanken, und vielleicht hat er das gehört, denn er bewegte sich plötzlich erschrocken in seinem Bett. Nun glauben Sie, ich hätte mich zurückgezogen? – O nein. In seinem Zimmer herrschte eine pechschwarze, dicke Dunkelheit, denn die Fensterladen waren aus Furcht vor Einbrechern fest geschlossen, und so wußte ich, daß er das Offnen der Tür nicht sehen konnte. Ich schob sie also unentwegt weiter auf.
    Ich hatte meinen Kopf schon hineingesteckt und war dabei, die Laterne zu öffnen, als mein Daumen von dem Zinnverschluß abglitt. Sofort sprang der alte Mann im Bett auf und schrie: »Wer ist da?«
    Ich verhielt mich ganz still und sagte nichts. Eine ganze Stunde hindurch bewegte ich keine Muskel, und in all der Zeit hörte ich nicht, daß er sich wieder hinlegte. Er saß noch immer aufrecht im Bett und lauschte, gerade so wie ich Nacht für Nacht gesessen habe, wenn ich auf die Totenwürmer in der Täfelung lauschen mußte.
    Endlich hörte ich ein leises Stöhnen, und ich wußte, daß es das Stöhnen der Todesangst war. Es war kein Stöhnen aus Schmerz oder Kummer – o nein! – es war ein dumpfer, halberstickter Laut, der aus der Tiefe der Seele kommt, wenn sie vor Grauen fast vergeht. Ich kannte den Laut gut. Manch eine Nacht, gerade um zwölf Uhr, wenn alle Welt schlief, war er auch aus meinem Herzen aufgestiegen, und sein Echo hatte das Entsetzen, das mich zerriß, aufs höchste getrieben. Ich sage, ich kannte ihn wohl. Ich wußte, was der alte Mann fühlte, und bemitleidete ihn, obgleich ich innerlich kicherte. Ich wußte, daß er seit dem ersten leisen Geräusch, als er sich im Bett aufgerichtet hatte, die ganze Zeit über wach gewesen, und daß die Furcht seitdem in ihm immerzu gewachsen war. Er hatte vergebens versucht, sie als grundlos abzuschütteln. Er hatte sich gesagt: »Es war nichts als der Wind im Kamin, es war nur eine Maus, die über den Fußboden lief«, oder: »es war ein Heimchen, das einmal zirpte.« Jawohl, mit solchen Annahmen hatte er sich zu trösten versucht und doch alles vergeblich gefunden. Es war alles vergeblich, denn der Tod war mit seinem schwarzen Schatten vor ihn hingetreten und hatte sein Opfer eingehüllt. Und die bedrückende Nähe dieses unsichtbaren Schattens ließ ihn fühlen – sehen und hören konnte er nichts –, daß sich mein Kopf im Zimmer befand.
    Als ich eine lange Zeit sehr geduldig gewartet hatte, ohne daß er sich niederlegte, beschloß ich, den Schlitz der Laterne ein ganz klein wenig zu öffnen. Sie können sich gar nicht denken, wie unendlich vorsichtig und langsam ich das tat, bis endlich so dünn wie der Faden eines Spinngewebes ein einzelner feiner Strahl aus der Öffnung glitt und gerade auf das Geierauge fiel.
    Es stand offen – weit, weit offen – und ich wurde wütend, als ich darauf

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