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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
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aufgeputzt hatte. Er war
aus weißem Stroh, hatte eine weiche Krempe und ein kirschrotes Futter, das ihr
Gesicht erglühen ließ wie das Innere der Muschel auf dem Kaminsims im Salon.
    Sie hatte das Stück Spiegelglas
gegen Mr. Royalls schwarze Lederbibel gelehnt und einen weißen, mit einer
Ansicht der Brooklynbrücke bemalten Stein davorgelegt, damit es nicht
wegrutschte; und sie saß vor ihrem Spiegelbild, bog die Krempe erst in die
eine, dann in die andere Richtung, während Ally Hawes' blasses Gesicht ihr über
die Schulter sah wie das Gespenst verpaßter Gelegenheiten.
    »Ich seh' schrecklich aus, nicht
wahr?« sagte sie schließlich mit einem glücklichen Seufzer.
    Ally lächelte und nahm den Hut
wieder an sich. »Ich nähe die Rosen gleich hier drauf, dann kannst du ihn
wegräumen.«
    Charity lachte und fuhr sich mit den
Fingern durch das dicke dunkle Haar. Sie wußte, daß es Harney gefiel, wenn sich
die rötlichen Spitzen auf ihrer Stirn kräuselten und am Nacken in kleinen Locken
ausliefen. Sie setzte sich auf ihr Bett und sah Ally zu, die sich mit konzentriertem
Stirnrunzeln über den Hut beugte.
    »Hättest du nicht mal Lust, für
einen Tag nach Nettleton zu fahren?« fragte sie.
    Ally schüttelte ohne aufzublicken
den Kopf. »Nein. Ich muß immer an dieses eine schreckliche Mal denken, als ich
mit Julia hinfuhr – zu dieser Ärztin.«
    »Oh, Ally ...«
    »Ich kann's nicht ändern. Das Haus
liegt an der Ecke Wing Street und Lake Avenue. Die Straßenbahn fährt vom
Bahnhof direkt daran vorbei, und damals, als uns der Pfarrer zu diesem
Bildervortrag mitnahm, hab' ich's sofort wiedererkannt, als könnt' ich sonst
nichts anderes sehen. Quer über die Fassade hängt ein großes schwarzes Schild
mit goldenen Buchstaben – ›Private Sprechstunden‹. Um ein Haar wäre sie
daran gestorben ...«
    »Arme Julia!« Charity seufzte aus
der Höhe ihrer Reinheit und Sicherheit. Sie hatte einen Freund, dem sie
vertraute und der sie respektierte. Sie würde mit ihm den nächsten Tag – den 4.
Juli – in Nettleton verbringen. Wen außer ihr ging das etwas an, und was war
schon Schlimmes dabei? Der Jammer war eben, daß Mädchen wie Julia es nicht
verstanden, wählerisch zu sein und sich üble Burschen vom Leibe zu halten ...
Charity glitt vom Bett und streckte die Hände aus.
    »Bist du fertig? Laß ihn mich noch
einmal aufprobieren.« Sie setzte den Hut auf und lächelte ihrem Spiegelbild
zu. An Julia dachte sie nicht mehr ...
    Am nächsten Tag war Charity vor Morgengrauen auf
und sah, wie sich der gelbe Sonnenaufgang hinter den Hügeln ausbreitete und der
silbrige Glanz, der einem heißen Tag vorangeht, über den schlafenden Feldern
zitterte.
    Ihre Pläne hatte sie sich sehr
sorgfältig zurechtgelegt. Sie hatte angekündigt, daß sie zu dem Band-of-Hope-Picknick
nach Hepburn gehen werde, und da niemand aus North Dormer die Absicht hatte,
sich so weit weg zu wagen, war es unwahrscheinlich, daß ruchbar würde, daß sie
bei dem Fest gefehlt hatte. Und falls doch, so würde ihr das im übrigen nicht
viel ausmachen. Sie war entschlossen, ihre Unabhängigkeit zu behaupten, und
wenn sie sich erniedrigte, wegen des Hepburn-Picknicks zu schwindeln, dann
hauptsächlich deshalb, weil ihr Instinkt, der sie die Entweihung ihres Glücks
befürchten ließ, zur Heimlichkeit riet. Immer wenn sie mit Lucius Harney
zusammen war, hätte sie sich am liebsten von einem undurchdringlichen Gebirgsnebel
verhüllen lassen.
    Es war ausgemacht, daß sie bis zu
einer bestimmten Stelle an der Straße nach Creston gehen solle, wo Harney sie
abholen würde; dann würde er sie über die Hügel nach Hepburn fahren, um
rechtzeitig den Halb-Zehn-Uhr-Zug nach Nettleton zu erreichen. Harney hatte
sich zunächst für den Ausflug nicht sehr erwärmt. Er hatte sich bereit erklärt,
sie nach Nettleton zu bringen, hatte ihr aber dringend geraten, nicht am 4.
Juli zu fahren, weil so viele Menschen unterwegs seien, die Züge wahrscheinlich
Verspätung hätten und es für sie schwer sein würde, vor Anbruch der
Nacht zurück zu sein; ihre offenkundige Enttäuschung bewog ihn jedoch,
nachzugeben und sich sogar halbwegs angetan von dem Abenteuer zu zeigen.
Charity verstand, warum er nicht begeisterter war: er hatte sicher Dinge
gesehen, neben denen selbst ein 4. Juli in Nettleton langweilig wirken mußte.
Sie hingegen hatte noch nie etwas erlebt; und eine große Sehnsucht erfaßte sie,
an einem Feiertag durch die Straßen einer großen Stadt zu promenieren:

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