Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)
Effizienz und Optimierung, sei es beim Einkauf, sei es bei der Risikoprognose von Aktien oder Krankheiten. Der elektronische Text wird benutzt, um die bewusste oder unbewusste Logik menschlichen Verhaltens zu bestimmen. Vor allem aber soll er, was in seinen Folgen bisher kaum debattiert wird, die Widersprüche aufdecken, die unser Verhalten zeigt.
29 Du
Wie die Essenz einer Person gelesen
und vermarktet wird
W ann immer Sie, lieber Leser, künftig Probleme haben werden – ob bei der Passkontrolle, der Karriere oder bei der Kreditwürdigkeit –, immer wird es um Widersprüche gehen. Die ganze Karriere von Nummer 2 und seinen zunehmend spieltheoretischen Instrumenten ist eine gedankliche Operation, um Widersprüche zu eliminieren.
Das Mantra der neoklassischen Ökonomie war die Selbst- Konsistenz von Nummer 2, dem »homo oeconomicus«: Er konnte sich nicht widersprüchlich zu seinen eigenen egoistischen Antrieben verhalten; selbst als Altruist dient er dem Eigennutz.
In allem ist eine Logik enthalten, selbst im Widerspruch, im Versagen, im Versuch, ein anderer sein zu wollen, als man ist. Mögen auch Generationen von Ökonomen und Psychologen (die ein ganz anderes Bild des menschlichen Ichs hatten) gegen diesen Befund opponiert haben, in Zeiten der Berechenbarkeit ist er aktueller denn je. Dort, wo das Denken, das bewusste und unbewusste Tun eines Menschen Widersprüche aufweisen, besteht die Möglichkeit, seinen »wahren« Absichten auf die Spur zu kommen: seinen egoistischen Zielen.
Sehr selten und eigentlich nur dort, wo beispielsweise durch Gerichtsverfahren in den USA die Technologie juristische Beweise liefern muss, kann man einen kleinen Blick in die Tiefe der Analytik werfen.
»Unsere Arbeit ist so, als würde man alle Querverweise in den Tagebüchern von fast wahnsinnig peniblen Tagebuchschreibern lesen«, sagt Elizabeth Charnock, CEO von Cataphora. 239 Ihre Firma hatte jahrelang Daten für Gerichtsverfahren, insbesondere solche, die die Wall Street betrafen, analysiert.
Jetzt, da sie diese Abteilung verkauft hat, gehört sie zu einer der wenigen, die offen über ihre Systeme reden kann. Es ist freilich ein Tagebuch besonderer Art:
»Allerdings ist der Gesamteffekt sehr viel größer, weil offen bar die meisten Handlungen im wirklichen Leben im Autopilot- Modus ausgeführt werden. Deshalb bildet das Porträt, das wir durch diese Handlungen gewinnen können, die Essenz einer Person mit sehr vieler größerer Klarheit ab, als es jemals zuvor möglich war.« 240
Es waren »Tagebuchschreiber«, nämlich Schriftsteller, die seit der letzten Jahrhundertwende um 1900 den Kollaps von Lebens narrativen voraussahen. Oscar Wildes »Bildnis des Dorian Gray«, in dem der Held strahlend jung bleibt, aber sein gemaltes Porträt altert und unansehnlich wird, ist in den Augen der Analytiker der Teufelspakt, den viele heute ohne nachzudenken eingehen.
»Die Divergenz«, schreibt Charnock, »entsteht zwischen den aufgehübschten digitalen Identitäten, die Menschen von sich in sozialen Netzwerken aufbauen, und dem Porträt ihres digitalen Du, das wir durch das Zusammenführen sämtlicher verfügbaren Datenbits von allen verfügbaren Quellen herstellen.« 241
Von Oscar Wilde über Kafka, Aldous Huxley und George Orwell bis hin zu Max Frisch rettete noch die Erzählung über den Identitätsverlust die Identität. Auch Soziologen wie Richard Sennett, die spätestens ab den Neunzigerjahren die Entmächtigung des Einzelnen an der Arbeitswelt im Zeitalter der Globalisierung demonstrierten, glaubten trotz allem Pessimismus immer noch an ein Spiel unter menschlichen Akteuren.
Jetzt hat der Autor gewechselt. Charnock und ihr Team fanden zu ihrer eigenen Verwunderung heraus, dass sie in der Lage waren, »den Charakter von Menschen und Organisationen mit klinischer Präzision zu erfassen«.
Es ist dieser Operationsbericht, in dem künftig die Ich-Erzählung, die unser Leben ist, eingeschrieben wird. Man mag gelernt, studiert haben, einen neuen Anzug oder ein neues Kostüm für das Vorstellungsgespräch gekauft haben – aber das digitale Du trägt keine Anzüge und keine Kostüme, und seine Zeugnisse bestehen aus allen digitalen Daten, am wenigsten aber aus Abitur und Prüfungen.
Was, so fragt Charnock, die seit 2002 »Millionen von interes santen E-Mails und elektronischen Daten« analysiert hat (»Möglicherweise«, wie sie aufrichtig hinzufügt, »auch einige von Ihnen, lieber Leser«), ist überhaupt unsere Antwort,
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