Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)
erreichen kann. Es geht um das fehlende Verbindungsglied zwischen der Verwandlung des nackten Menschen, der Rohmaterial ist, und demjenigen, der sich wie Robinson pedantisch Informationen auflistet (»Bibel, vier Kompasse, Seekarten und Navigationsbücher«), rebootet und sich ein Paradies schafft.
Diese Verwandlung ist es, die man heute »Wissen«, »Kreativität« und »Talent« nennt. Früher hieß sie Bildung oder Geschichte, aber jetzt meint sie viel mehr als je zuvor. »Wissensgesellschaft« heißt: Schwimm nackt hinaus und greife zu.
Robinson hat sich genau das Richtige an Land gebracht: Es ist alles nur eine Frage von Navigationsbesteck und Bibel, das heißt von zwei Technologien, von denen die eine für alles einen Link und die andere auf alles eine Antwort weiß.
Die »Wissensgesellschaft« liebt immaterielle Güter und virtuelles Kapital, betreibt, wie erwähnt, die Entkleidung (»dis mantling«) Einzelner und ganzer Unternehmen, und ihr dar winistischer Evergreen heißt »lebenslanges Lernen«. Im Grunde ist »lebenslanges Lernen« ein wunderbares, wenn auch triviales Konzept.
Vielleicht ist der Begriffsschwindel, der mit der Wendung einhergeht, einer der traurigsten Kollateralschäden der Krise, weil er so viel Idealismus in die Irre führte und die besten Seiten des Internets für die eigenen Zwecke ausbeutete. Denn hinter der Pflicht zum »lebenslangen Lernen« des Einzelnen, die in Wahrheit die Pflicht zu dauernder Anpassungsbereitschaft war, verbarg sich die Kenntnis der Schwerfälligkeit von Institutionen.
Der Achtstundentag der traditionellen Arbeitswelt hat nicht nur den Tag, sondern das Jahr und das Leben strukturiert. Heute kann man nicht in einer Ära der Gleichzeitigkeit leben und glauben, die Ökonomie der eigenen Lebenszeit wäre davon nicht betroffen.
Die immer weitergehende Auslöschung von Zeitsequenzen in einer Welt des Hochfrequenz-Handels und der Echtzeitkommunikation frisst sich aus der Mikroebene bis hinauf in die Makroebene, wo die Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit korrodiert.
»Lebenslanges Lernen« hat die Funktion, diese dauernde Gleichzeitigkeit auch im Kopf herzustellen. So ist »lebenslanges Lernen«, das so ausgeruht und beschaulich klingt, oft genau das Gegenteil dessen, was man damit verbindet: die Fähigkeit, ständig zu verlernen, an was man noch gestern geglaubt hat, auch seine eigene Identität. Denn was es war, was man lernen sollte, außer dem ebenfalls missbrauchten Begriff »Kreativität«, war selbst den Unterrichtsbehörden schleierhaft, die binnen weniger Jahre Ausbildungsprogramme gleich vollständig und widersprüchlich umschrieben.
In Kalifornien beispielsweise fiel die staatliche Beteiligung an Universitäten innerhalb von drei Jahrzehnten um 30 Prozent, was zu der bizarren Situation führte, dass im Eldorado des neuen Denkens der Staat ein Drittel mehr für Gefängnisse als für Universitäten ausgab.
Ausgerechnet in die Ära der »Wissensgesellschaft« fällt auch die Deklassierung der deutschen Universität und ihrer Studenten, in der genau die Kreativität ausgeschaltet wurde, die doch so erwünscht war.
Der ökonomische Nutzen wurde nicht etwa nur von »Bildung« neu berechnet, sondern ein grundsätzlicher Perspektivenwechsel hatte stattgefunden. Die Idee von Lernen und Bildung zielte darauf, stabile Identitäten herauszubilden, die ein ganzes Leben lang halten konnten. Denn tatsächlich kostet Allgemeinbildung, die nicht sofort auf die industrielle Verwertbarkeit zielt, eine Gesellschaft am wenigsten und hat die langfristigsten Wirkungen auf das Leben.
Das aber ist die Perspektive des Individuums. In den liquiden Kommunikations- und Arbeitsverhältnissen der Gegenwart ist Identität schon deshalb störend, weil sie Loyalitäten einfordert, die heute nicht mehr garantiert werden. Von hoch spezialisierter Bildung im Schnelldurchlauf profitiert, wie der Anthropologe Joseph Tainter in seinen richtungsweisenden Studien über den »Kollaps komplexer Gesellschaften« gezeigt hat, immer nur ein vergleichsweise schmaler Sektor der Gesellschaft, während sich aber die Kosten auf alle verteilen. 244
Man kann eben nicht von »immateriellen Gütern« sprechen und glauben, der Inhalt des eigenen Kopfs habe nichts mit der zukünftigen Entwicklung von Märkten zu tun. »Lebenslanges Lernen« war jahrhundertlang eine Trivialität, ehe es von der Wall Street umgedeutet wurde und jetzt bedeutet: sich in jeder Sekunde auf neue Marktgegebenheiten
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