Egorepublik Deutschland: Wie uns die Totengräber Europas in den Abgrund reißen (German Edition)
umfassenden »Arabischen Frühling« missverstehen. Tunesien: ein Land, das unter dem Einfluss seiner jüngeren Geschichte immerhin über eine einigermaßen verlässliche Staatsverwaltung und in sozialer Hinsicht über einen gewissen Mittelstand verfügt; Libyen: gesegnet durch seine Ölvorkommen und mit guten Chancen für den Aufbau einer gesunden wirtschaftlichen Struktur, andererseits jedoch behindert durch die Zerrissenheit seiner Bevölkerung in eine Unzahl von ethnisch oder religiös nicht zueinander passenden Stammes- und Familienclans; Ägypten: zwar mit einer erfahrenen, wenn auch zutiefst korrupten Verwaltung, zugleich aber belastet mit dem nahezu erdrückenden Problem einer riesigen und weiter explodierenden Zahl junger und gut ausgebildeter Menschen, die auf keine einigermaßen gesicherte wirtschaftliche und soziale Zukunft rechnen können; und Syrien: Opfer eines rücksichtslosen Diktators auf der einen, die vor nichts zurückschreckenden innerreligiösen Auseinandersetzungen fanatischer Islamisten auf der anderen Seite. Doch selbst dann, wenn in den verantwortlichen Regierungsspitzen der europäischen Staaten ausreichend verstanden werden sollte, dass sich die Voraussetzungen für die weitere politische Entwicklung in diesen Ländern eben grundlegend voneinander unterscheiden, folgt daraus noch lange nicht, dass sich die Einsicht in die zwingende Notwendigkeit durchsetzt, sich auf ein einheitliches politisches Verhalten der Europäer zu einigen.
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Die Europäische Union und ihre Außenpolitik: unverändert verbirgt sich dahinter nichts anderes als ein Orchester, in dem die Mitglieder nach jeweils unterschiedlichen Noten spielen. Als Dirigentin hat man eine gewisse Lady Catherine Ashton ausersehen. Ihr wurde die ehrenvolle Aufgabe übertragen, die Kakophonie nationaler Interessen zur wohlklingenden Harmonie einer gemeinsamen Komposition zu formen. Zu diesem Zweck erlaubt man ihr sogar den Aufbau eines kleinen Stabs von abgestelltem Hilfspersonal. Ernsthafte Entscheidungsbefugnisse hat man ihr freilich sorgsam vorenthalten – sie liegen unverändert bei dem vielstimmigen Rat der Außenminister (oder gar der Staats- und Regierungschefs), dem es überlassen bleibt, jederzeit ein gemeinsames politisches Handeln zu verhindern und auf diese Weise willkommene Spielräume für die Wahrnehmung eigener nationaler Interessen zu eröffnen. Die Beispiele dafür lassen sich beliebig vermehren. Eines davon spricht eine besonders deutliche Sprache, zumal es sich dabei um eine Institution handelt, die in der Vergangenheit wahrlich eine geschichtlich bedeutsame Rolle gespielt hat: die NATO.
Bis zum Ende des Kalten Krieges waren sich alle ihre Mitgliedsstaaten nahtlos einig, dass es sich um ein Verteidigungsbündnis handelt. Es diente dem Schutz der freiheitlich-demokratisch organisierten Länder des »Westens« vor denkbaren militärischen Eroberungsgelüsten der sowjetisch dominierten Welt. Mit diesem Ziel verpflichtete es die Gemeinschaft als Ganzes zum Handeln, sobald einem der Mitglieder Gefahr drohen sollte. Einzig Frankreich hatte sich während der Präsidentschaft von Charles de Gaulle (und auch noch für eine längere Zeit danach) entschlossen, den militärischen Strukturen des Bündnisses fernzubleiben, weil es meinte, die für alle übrigen Mitglieder unbestrittene Führungsrolle der USA nicht akzeptieren zu können. Das hatte sich freilich nach dem Ende dieser bemerkenswerten Periode der französischen Geschichte wieder geändert, sodass schließlich alle Staaten der europäischen Gemeinschaft dem Bündnis angehörten. Doch nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Reichs und der unmittelbar darauf einsetzenden Globalisierung wusste bald niemand mehr genau, welche Aufgaben die NATO zukünftig wahrnehmen soll. Der Ratschluss, auf den man verfiel, war, die Zukunft der bis dahin so erfolgreichen Organisation zu retten, indem man meinte, sie kurzerhand in eine Einsatztruppe verwandeln zu sollen, die zur Abwehr jeglicher Bedrohungen für die freiheitlich-demokratische Welt zur Verfügung steht.
Leider wurde jedoch versäumt, Klarheit darüber zu schaffen, was unter solchen Bedrohungen genau zu verstehen ist. Für den amerikanischen Präsidenten George W. Bush gehörte nicht nur der irakische Diktator Saddam Hussein dazu, sondern genauso selbstverständlich auch die Terrororganisation Al Kaida. Nur der störrischen Weigerung einiger Mitgliedsstaaten war es zu verdanken, dass die NATO am Ende nicht in weitere
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