Egorepublik Deutschland: Wie uns die Totengräber Europas in den Abgrund reißen (German Edition)
das spanische Granada und die einzigartigen Hinterlassenschaften – wie etwa die Alhambra – der immerhin jahrhundertelang andauernden arabischen Herrschaft. Nicht weniger eindrucksvoll ist das gleiche Phänomen in Sizilien zu beobachten, wo die normannische Kultur der Wikinger noch heute unübersehbare Spuren im Zusammenspiel mit arabischen und christlichen Einflüssen hinterlassen hat. Was übrig geblieben ist, sind zwar die durchaus vielfältigen regionalen Traditionen der Kleidung, der Musik, der Essgewohnheiten oder des Umgangs unter den Geschlechtern – doch wie sollte es sonst erklärlich sein, dass ein junges Mädchen aus dem nordöstlichen Finnland, aus Karelien, ganz selbstverständlich auf den Namen »Helena« hören kann, der Tausende Kilometer entfernt im Süden, in Griechenland, für jedermann an den Troianischen Krieg erinnert, der wiederum in ganz Europa durch das Epos von Homer bekannt geworden ist?
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Wenn aber ausnahmslos alle diese Kriterien – Geografie, Geschichte, Kultur oder gar »Abstammung« – ungeeignet sind, eine genaue Definition zu liefern: Wer oder was ist dann eigentlich jenes »Europa«? Wer oder was gehört dazu, wer oder was nicht?
Der Widerspruch liegt auf der Hand. Dass es bei bestem Willen keine unwiderleglich genaue Beschreibung dessen gibt, was sich hinter dem Wort »Europa« verbirgt, schließt nämlich in keiner Weise aus, dass die überwiegende Mehrheit der hier lebenden Menschen durchaus – und wenn auch nur mehr oder minder unterschwellig – ahnt (oder spürt), dass es tatsächlich so etwas wie eine europäische Identität gibt, ein Bündel von Eigenheiten, die weit mehr beinhalten als eine reine Interessengemeinschaft – die uns vielmehr zutiefst miteinander verbinden. Jacques Delors hat es einmal als die »europäische Seele« bezeichnet.
Vor dem Hintergrund dessen, was über unsere Geschichte und unsere Kultur gesagt wurde, mag eine solche Behauptung kühn erscheinen. Wenigstens einigermaßen wäre sie auch allenfalls nur mit den – zudem wohl eher fragwürdigen – Mitteln der Demoskopie zu belegen. Ich wage sie trotzdem. Denn selbst wenn die näheren Zusammenhänge kaum eines einzigen der unzähligen geschichtlichen Ereignisse, der Kriege und Friedensschlüsse, der Vertreibungen und Umsiedlungen, der Siege und Niederlagen einer größeren Zahl von Menschen bekannt sein sollten, wenn es nur wenige sein sollten, die je einen Roman oder ein Gedicht gelesen, ein Museum von innen gesehen, ein Theaterstück oder eine Oper erlebt, ja, die sich wenigstens dem Erlebnis populärer Musik aufgeschlossen haben: Irgendwie sind wir uns eben doch bewusst, wie oft und wie nahe wir uns in der Vergangenheit begegnet sind, wie sehr wir gestritten und uns doch wieder miteinander versöhnt haben. Gewachsen ist daraus ein fast schon merkwürdiges Gefühl dafür, dass uns bei aller vordergründigen Fremdheit eine Art undefinierbarer Gemeinsamkeit verbindet. Seltsam hartnäckig erinnert es uns immer wieder daran, wie sehr unser gesamtes Umfeld und unser Dasein durch ein einzigartiges schöpferisches Potenzial geprägt ist, das in der ganzen Welt seinesgleichen sucht – seltsam, weil diese besondere europäische Kreativität auf der produktiven Spannung beruht, die unsere Neugier aufeinander, aber nicht weniger auch unsere eifersüchtigen Rivalitäten immer wieder von neuem auslösen.
Ob man allerdings ernsthaft allein auf ein solches unterschwelliges Gefühl bauen kann, um dem Projekt eines sich weiter vereinigenden Europa endlich zum Durchbruch zu verhelfen, um darauf hoffen zu dürfen, dass man bei einer Volksabstimmung in einer Mehrzahl der beteiligten Ländern eine ausreichende Mehrheit erzielen wird? Ich glaube das kaum. Nein, etwas gänzlich Neues müsste hinzukommen.
Dabei haben sich schon viele den Kopf zerbrochen, was wohl geeignet sein könnte, die Menschen auf der Straße davon zu überzeugen, dass es um die Zukunft ihrer nachfolgenden Generationen geht und daher höchste Zeit ist, ihre althergebrachten Vorstellungen über den Haufen zu werfen. Eines dieser Rezepte klingt auf Anhieb besonders sympathisch – und macht trotzdem sogleich deutlich, wie müßig es wäre, das Problem sozusagen mit einfachen Bordmitteln angehen zu wollen. In einem engagierten Essay hat Claus Leggewie, der zu Recht hoch angesehene Politik- und Kulturwissenschaftler, darauf gedrungen, das seit langem erörterte Vorhaben endlich Wirklichkeit werden zu lassen, ein zentrales Haus der
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