Egorepublik Deutschland: Wie uns die Totengräber Europas in den Abgrund reißen (German Edition)
Vielfalt von Meinungen, Erfahrungen und Verhaltensweisen vereint ist – hinter denen aber dennoch, kratzt man nur ein wenig an der Oberfläche, plötzlich Vorstellungen zum Vorschein kommen, die uns in irgendeiner merkwürdigen Weise allen gemeinsam sind.
Der Schriftsteller Peter Prange hat das in seinem Lesekompendium Werte auf den Punkt gebracht: »Wir sind immer zweierlei zugleich: Wir verkörpern eine Position und zur gleichen Zeit … deren Gegenteil … Wir preisen den Gleichheitsgrundsatz und verlangen nach Eliten. Wir bauen auf den Fortschritt und trauen ihm keinen Schritt über den Weg … Wir sind offen für das Fremde und provinziell bis zum Faschismus. Wir sind wirklichkeitsfremde Phantasten und knallharte Realisten … Vor allem sind wir unendlich neugierig und zutiefst skeptisch in ein und derselben Person … Wenn wir uns in Europa zu Hause fühlen, dann aus einem einfachen Grund: weil wir Europa in uns tragen, in unseren Herzen und Seelen und DNA-Ketten … Was immer wir denken oder tun, was immer wir hoffen und wünschen – überall ist der europäische Geist längst in uns am Werke.«
Besser kann man es nicht ausdrücken. In der Tat geht es um ein Gefühl, das manchen von uns allenfalls in seltenen Ausnahmesituationen, anderen hingegen nahezu täglich intensiv bewusst ist. Lebendiges Geschehen, und darum handelt es sich, lässt sich nun einmal nicht endgültig – und schon gar nicht »abschließend« – in einem Begriff festhalten. So verstanden, stehen wir zweifellos vor einem Dilemma, wenn wir über Europa und seine Zukunft nachdenken. Wollen wir nicht resignierend die Hände in den Schoß legen und hilflos auf ein gütiges Schicksal hoffen, müssen wir uns trotzdem auf eine Festlegung einigen und die Frage beantworten, um was es sich eigentlich handelt, wenn von »Europa« und seiner Zukunft die Rede ist.
Am einfachsten fällt es, mit einem Argument aufzuräumen, das über lange Zeit von manchen eher hinterwäldlerischen Geistern mit Vorliebe ins Feld geführt zu werden pflegt: dem Versuch einer geografischen Grenzziehung. Sie lässt der Einfachheit halber Europa an den Gestaden des Mittelmeers enden. Zypern und Malta mögen da gerade noch als lässliche, wenn auch äußerst bedauerliche Sünden hingenommen werden. Unwiderleglich aber folgt daraus, dass die Türkei allein schon wegen ihrer überwiegenden Ausdehnung nach Anatolien, niemals zu Europa gehören kann. Sichtbar zu Problemen allerdings führt das beim Versuch einer kontinentalen Abgrenzung in Richtung Osten: Die früher weit verbreitete Auffassung, Europa erst auf den Höhen des Urals enden zu lassen, würde ja nicht nur Staaten wie beispielsweise die Ukraine zu möglichen Kandidaten für eine Aufnahme in die EU machen, sondern – was ja nun wirklich nicht infrage käme – die Türen sogar für Russland selbst öffnen …
Vergessen wir also getrost solche Versuche, Klippschülern mit primitivsten Argumenten nach dem Munde zu reden. Wenn es tatsächlich ein Europa gibt, dessen fortschreitende Vereinigung lebenswichtig ist, dann handelt es sich jedenfalls nicht um ein geografisch abgegrenztes Gebiet, das – ganz nach der Manier siegreicher früherer Herrscher (wie zuletzt Stalin und die westlichen Alliierten am Ende des Zweiten Weltkriegs) – mit einem Strich auf der Landkarte als Einfluss- und Machtbereich einzugrenzen ist. Nein, auch wenn es noch so schwer fallen mag, überzeugende Kriterien zu finden, die geeignet sind, diesen so merkwürdig flüchtigen Begriff sicherer dingfest zu machen als mit der Beliebigkeit der Geografie: Mit dem, was dieses Europa wirklich ausmacht, muss es noch eine andere Bewandtnis haben. Beginnen wir ruhig noch einmal mit einem kurzen Blick auf die Geschichte.
Seit dem Beginn der Bronzezeit war die überlieferte geschichtliche Entwicklung – jedenfalls bis zur Einwanderung der ersten hellenischen Stämme in das heutige Griechenland um die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. – durch zwei kulturelle, wirtschaftliche, politische Hochkulturen und damit Machtzentren geprägt. Beide unterhielten schon damals ein weit verzweigtes Netz von Handelsbeziehungen, das alle vier Himmelsrichtungen einschloss. Der Schwerpunkt sowohl des auf dem Peloponnes angesiedelten mykenischen Reichs als auch des auf Kreta beheimateten minoischen Reichs lag jedoch in ihrem unmittelbaren Umfeld. Dazu zählte nicht zuletzt die anatolische Halbinsel, von deren herausragender Bedeutung die homerische Erzählung von Troia
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