Ehen in Philippsburg
benannt, und man denkt dabei an mehr als an die paar Millionen Ganglien, und das Blut ist nicht bloß ein roter Saft, den man bei Verwundungen kennenlernt. Das, was diese Dinge sind und das, was sie dem Menschen bedeuten, dafür hat man Worte gefunden. Das da drunten aber ist jenseits der Worte geblieben, ist eigentlich bis heute noch unbenannt und darum unheimlich, denn Liebe ist nicht sein Wesen, Sexualität auch nicht, diese Aufteilung hat die wissenschaftliche Barbarei besorgt, jetzt ist ein Unwesen daraus geworden, ein Tier zwischen den Schenkeln eines jeden, etwas, das man unter Kuratel stellen muß, etwas, das übel riecht und den unabhängigsten Geist gemein macht, etwas, das man bewirtschaften will, wie das Wasser für die Turbinen, denn die Turbinen seien ein stolzes Geistwerk, Sublimierungsanlagen der Ingenieure, die die Urkraft, die unverstandene, zu bändigen wissen, daß eine Kraft daraus wird, die man kühl einkalkulieren kann in die Gesamtrechnung… Hans trieb auf seinen Wildwassergedanken hin, ein heftig schwankendes Boot, jeden Augenblick in der Gefahr, zu kentern oder an einem Felsen zu zerschellen. Die blumige Deutlichkeit dieses sehnigen Frauenarztes marterte ihn. Noch nie hatte er Anne so verehrt wie in dem Augenblick, als sie – wahrscheinlich auch ein bißchen beschädigt von diesem argen Gespräch – eine Atempause Dr. Benraths benutzte, um zu sagen: »Die Hitze heute läßt nicht mehr nach.«
Ihre Mutter sah mit halb herabgelassenen Lidern langsam zu ihr hin und sagte: »Das ist meine Tochter.« Darauf lachte Alice greller als je zuvor. »Die Gute«, sagte Dr. Benrath und prostete Anne zu. Hans dachte: ich muß gehen. Frau Volkmann haßt ihre Tochter. Sie will mit dem muskulösen Gynäkologen schlafen, Alice auch, Anne stört, ich störe, vielleicht wollen sie sich auch bloß unterhalten, ich bin zu schwer zu allem. »Und du mein schwarzes Kind«, sagte Dr. Benrath und drehte den Kopf seiner Frau mit einem leichten Klaps gegen das Kinn steil nach oben. »Sie ist ein Engel«, sagte Frau Volkmann. »Ja, ich schäme mich auch«, sagte Alice und explodierte in ein nicht enden wollendes Gelächter, das aus Atemnot und Erschöpfung schließlich in ein jaulendes Gestöhne überging. Hans dachte: das ist die Gelegenheit, Anne zu helfen. Und er stand auf und sagte: »Anne, gehen wir doch in den Park, ein bißchen Bewegung…« Mehr mußte er zum Glück nicht sagen, Frau Volkmann stimmte ein, umarmte ihn, beglückwünschte ihn, ja, wir gehen alle in den Park, man spürt sich gar nicht mehr, wenn man so lange sitzt, großartig. Am Dichter vorbei, er war inzwischen eingeschlafen (»gleich ruft seine Frau an und kommandiert ihn heim«, flüsterte Frau Volkmann), stolperte der Rest der Party in den Park hinaus, Alice und Frau Volkmann hatten sich an den Gynäkologen gehängt. Hans ging zwischen Frau Benrath und Anne. Ein paar Minuten tapste man durcheinandersummend in die schwarze Mauer des Dunkels hinein. Da schimmerten irgendwo helle Gartenmöbel auf. Alice stürzte darauf zu, riß Dr. Benrath mit sich und rief: »Berta, laß Sekt servieren!« Und da in dieser Villa nichts unmöglich schien, wurde Sekt serviert, und die Trinkerei ging in noch flacheren, noch bequemeren Sitzgelegenheiten weiter. Und weil man sich nun nicht mehr sah, weil nun jeder allein auf der schaukelnden Bahn seiner Vorstellungen weiterrannte, unbeobachtet, nur von seinen Wünschen und vom Sekt befeuert, wurden die Reden noch kühner. Hans dachte durch seine immer dichter werdenden Schleier hindurch: vielleicht ist das eine Orgie. Er hatte schon davon reden gehört. Dr. Benrath leitete das Gespräch. Jetzt löste er sogar seiner Frau die Zunge, befreite Anne von ihrer Schwere und wußte schließlich auch Hans mit Hilfe geschickt gezielter Komplimente, die zugleich Aufforderungen waren, in die Runde einzubeziehen. Dabei schien er selbst so ruhig und nüchtern zu bleiben, wie er es beim Zerlegen der kalten Forelle gewesen war. Sein Beruf hatte ihm offensichtlich eine grauenhafte Sicherheit gerade da verliehen, wo alle anderen unsicher oder doch zumindest anfechtbar waren. Vielleicht weil er wunschlos war, wo alle anderen wünschten, aber nicht eingestehen wollten, daß sie und wie sehr sie wünschten. Und das schlechte Gewissen seiner Umgebung verlieh ihm alle Kraft. Oder war Frau Volkmann genauso kalt? Und Alice? War nur er der Bürger, der sich hier Genuß erschleichen wollte, aber nicht den Mut hatte zu genießen? Er dachte an
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