Eheroman (German Edition)
Dr. Brackwerth hat ein gelbwollenes Kostüm angezogen. Sonst trägt sie immer Hosen, aber nun muss sie höchstwahrscheinlich gegen Beate ankämpfen, kleidungsmäßig. Beate allerdings trägt einen sehr kurzen Rock, da kann sie ihr wollenes Kostüm vergessen. Vor den Fenstern, draußen in der Kieler Straße, regnet es still und eisig vor sich hin. Es ist noch dunkel. Die Lichter der Autos flitzen vorbei, Leute mit Schirmen und in Mänteln. Beate, in ihren dünnen Strumpfhosen mit ihren hohen Absätzen, kennt kein Wetter. Beate läuft immer so rum, ob Sommer, ob Winter.
Die Einmetervierzigfrau hebt ihr Glas, Hartwig hebt sein Glas, Frau Dr. Brackwerth hebt ihr Glas, Beate hebt ihr Glas, und Ava hebt ihr Glas. «Und das ist erst der Anfang», sagt Frau Dr. Brackwerth. «Im Januar fangen drei neue Leute an, zwei Männer und eine Frau. Haben alle gestern unterschrieben. Auf die Zukunft!»
«Auf Beate und dass sie es sich überlegt hat, aus dem Lünedorf wegzugehen, zu ihren Freunden und in ihre neue Zukunft», sagt Hartwig und ändert damit den Trinkspruch seiner Ehefrau eigenmächtig ab. Nun sagt keiner mehr etwas, alle stoßen miteinander an und trinken. Später essen sie Hackfleischbrötchen, frisch geschmiert, das Hackfleisch von Edeka, die Brötchen auch. Dazu heißen Kaffee aus der Maschine. Ava lehnt sich im lederbezogenen Stuhl unter einem schwarz-weißen Bernhardinerhund zurück und schließt die Augen. Das Rauschen des Verkehrs auf der nassen Straße, das Zischen der Kaffeemaschine und das Geschwätz von Hartwig und Beate und der Einsvierzigfrau, Frau Mille – sie lässt es alles durch sich hindurchsickern und denkt, sie ist irgendwie doch ganz zufrieden mit ihrer Arbeit und den Leuten hier.
Danach muss sie zu Herrn Bodenegg, der in einer Wohnung in einem dreistöckigen weißen Haus in Uhlenhorst wohnt, ganz in der Nähe von Barbara. Herr Bodenegg sitzt in seinem Bett und trägt ein gestreiftes Hemd. Er ist vierundsechzig Jahre alt und hat mit seinem Auto an einem dunklen Oktoberabend eine einundzwanzigjährige Radfahrerin in den Rollstuhl gefahren. Die Radfahrerin liegt immer noch im Krankenhaus, es ist bekannt, dass sie nicht mehr wird gehen können. Herr Bodenegg hat Rückenprobleme von der scharfen Bremsung beim Unfall, er trägt eine Halskrause, er hat ein verstauchtes Handgelenk und einen zerschrammten Bluterguss an der linken Stirnseite, aber ansonsten ist er unverletzt geblieben. Seine Tochter, eine in Spanien tätige Immobilienmaklerin, wollte, dass jemand nach ihm sieht und seine «Verletzungen» behandelt, obgleich seine Verletzungen mehr innerer Natur und nicht von Ava behandelbar sind.
«Wie sieht es aus?», sagt Ava, der eine asiatisch aussehende Reinigungsfrau die Tür geöffnet hat.
«Gehen Sie doch fort!», sagt Herr Bodenegg.
So eröffnet er jedes Treffen, deshalb ist sie nicht mehr sonderlich berührt davon.
«Zeigen Sie die Stirn, wie fühlt es sich an, pocht es noch?» Unter der Salbe ist die Haut etwas suppig und entzündet. Sie wechselt vorsichtig den Zellstoff. Dann betrachtet sie die verstauchte Hand. Sie kann mit der verstauchten Hand nichts machen. Ein Arzt wird sie sich zu gegebener Zeit ansehen. Sie lässt den Verband an der Hand und seufzt. Mit Herrn Bodenegg ist nicht wirklich was zu tun. Er ist nicht besonders pflegebedürftig. Die Tochter hatte von Spanien aus angerufen und zu Hartwig gesagt, sie sollen sich die Zeit nehmen und mit ihm reden, weil er im Kopf etwas durcheinander sei. Sie bezahlt eine Stunde. Eine Stunde muss Ava bei Herrn Bodenegg sitzen. Hartwig hätte das nicht machen wollen. «Mach du das, Ava», hatte er gesagt, «du kannst doch immer gut mit Leuten.»
«Du kannst auch gut mit Leuten», hatte sie gesagt. Aber sie hatte sich gefügt. Hartwig ist der Chef. Und körperlich ist es leicht. Körperlich muss sie nur anwesend sein, sonst nichts. Reden tut Herr Bodenegg auch nicht. Er sitzt in seinem gestreiften Hemd in einer Anzughose auf seinem Bett und schweigt.
«Ja», sagt Ava. «Was tun wir nun?»
«Gehen?», sagt Herr Bodenegg. Er ist ein schöner Mann. Er ist schlank. Seine Kleidung ist gewählt und sein graues Haar leicht gewellt und ordentlich zur Seite gekämmt. Trotz allem ist er frisch rasiert und gepflegt. Er verrichtet sein Tagwerk mit all seinem Trotz und mit der Resignation eines Menschen, der sich nie gehen lassen würde, weil auch sein Tagwerk Teil der Resignation und der selbst auferlegten Strafe ist, vermutet Ava.
«Ihre Tochter hat
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