Eheroman (German Edition)
Beate.
«Wohin?», fragt Ava und weiß für einen Moment gar nicht, wen Beate meint, denn ihre Gedanken sind bei Danilo und bei dem, was Frau Mille vorschlug.
«Zu dem Alten, Mann», zischt Beate und wischt den Teller ab und stellt ihn zum Abtropfen in ein weiß beschichtetes Abtropfgestell.
«Ach, es ist vorbei», sagt Ava. Scheiden, hallt es in ihr nach, warum lässt sie sich nicht scheiden? Wie kann es sein, dass andere, Frau Mille, es so klar finden, dass sie sich scheiden lassen sollte? Wie kann diese nur diffus in ihren Gedanken herumschwirrende, kaum jemals gedachte Sache solche Ausmaße annehmen, dass sie sich auf Frau Mille, auf Hartwig und Beate, auf den ganzen Raum um sie her und vor allem auf ihre wirklichen, klaren Gedanken ausbreitete, in anwachsenden Wellen, die das Wort – Scheidung – mächtig werden lassen und es in ihr, in ihrer eigenen Ehe an einem Punkt positionieren, den sie nicht selbst festgelegt hat, sondern die dicke, kleine Frau Mille? Wie ein Orakel, wie eine Hexe oder eine Fee. Von der man nie weiß, ob sie böse oder gut oder einfach nur von hellerem Blick ist.
«Hast du …», Beate gluckst, «hast du … mit ihm …», sie gluckst lauter, «Schluss gemacht? Nach einem Tag?»
Ava schüttelt den Kopf. Sie nimmt Beates gebräunten Kopf mit den winzigen Sommersprossen und den leicht abstehenden Ohren zwischen ihre Hände. «Bist du so dumm, Beate? Ich musste nicht mit ihm Schluss machen, weil ich gar nicht mit ihm zusammen war. Wir hatten nur einmal Sex, und das ist alles.»
«Du hast aber Liebe gesagt», sagt Beate, entwindet sich Avas Händen, zieht den Stöpsel aus dem Becken und trocknet sich am Küchentuch ab.
«Ja», sagt Ava.
«Du meinst es also ernst damit? Du spinnst doch.»
«Es hat sich so angefühlt.»
«Wie denn?», sagt Beate.
«Es war einfach – sehr dringend.»
Beate nickt. «Das verstehe ich schon. Du musstest sehr dringend mit ihm vögeln.»
Ava zuckt mit den Schultern. Es ist genau das, was Beate gesagt hat, wahr, auch wahr. Also, was soll sie sich dagegen wehren? Sie schwimmt in einem Strom von verschiedenen Wahrheiten, und die Sätze kreisen sie ein. Hat sie Konstantin tatsächlich geliebt, für einen einzigen Abend? Sie ist sich ganz sicher, gerade weil sie jetzt nicht mehr mit ihm zusammen ist, sie hat Konstantin geliebt, das ist die einzige Sicherheit, die einzige tatsächliche Sicherheit der letzten Tage und Wochen und Monate gewesen – sogar der ganzen Jahre etwa? Das Schwierige dieses Gefühls ist allerdings, dass es sich vermischt, von Anfang an vermischt hat, mit der Liebe zu allem, was um sie lebt und sich als etwas Fühlbares an sie herangemacht hatte. Die Grundlage dieses Gefühls ist die Trauer gewesen, die egoistische Trauer um sich selbst.
Draußen Türenklappern, Stimmen, die anderen sind eingetroffen. Ava hängt das Geschirrtuch an den Nagel. Sie geht raus in das Büro, begrüßt die Kollegen und verabschiedet sich von Frau Mille. «Ich lasse mich nicht scheiden, Frau Mille, damit Sie es wissen.»
Gerade weil sie das gesagt hat, begleitet sie der entgegengesetzte Gedanke wie ein Pendant, das erst auftaucht, wenn das Gleichgewicht gestört ist. Warum nicht?, muss sie denken, kann sie den ganzen Arbeitstag nicht aufhören zu denken. Warum, Ava, lässt du dich nicht scheiden?
Die Hitze hat sich verändert. Sie ist matter geworden, sie erreicht schneller ihren Höhepunkt, gegen Mittag, wo es immer noch Sommer zu sein scheint, staubiges Funkeln auf den Straßen, Trockenheit, Erschöpfung in schwitzenden Gesichtern, Überdruss. Gegen Nachmittag geht die Hitze eilig, es wird schneller kühl, eine helle Gräue liegt über der Stadt, frühmorgens dann spinnennetzartige Feuchtigkeit, ein feuchter, dunkler Hauch in den blauen Tag, Boten der Verwesung und des Verfalls. Die Straßen sind wieder voller geworden, die Menschen ernüchtert, sie wenden sich ängstlich dem Alltag zu und die Kinder ihrem neuen Schuljahr, mürrisch und dennoch aufgedreht.
Ava spaziert in den Herbst wie betäubt. Sie will das Gefühl abschütteln, das sie jeden Morgen nach dem Erwachen erwartet, aber es sitzt auf ihr wie ein Tier, das sich festgekrallt hat und das ihr unentwegt Dinge ins Ohr flüstert, die keine Vernunft besitzen.
Aber alles geht weiter. Martin braucht neue Schuhe, Merve hat zunehmend Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung, Danilo fährt seine Mutter ins Krankenhaus, wo ihr die Gebärmutter entfernt wird, Petra wird arbeitslos, die große Merve
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