Eheroman (German Edition)
leidet unter Haarausfall, Ava verrenkt sich das erste Mal bei ihrer Arbeit den Rücken und denkt darüber nach, zur Rückenschule zu gehen, aber ihr fehlt die Zeit. Allen fehlt die Zeit.
Ende September, am Ende ihres Arbeitstages, besucht sie Fadil im Laden. Sie besucht ihn öfter. Fadil steht im Gang zwischen den dunklen Regalen und sortiert Tee um. Er trägt immer noch den Kittel, sein dunkles Haar ist an den Spitzen angegraut und oben an der Stirn ein ganzes Stück nach hinten gewichen.
«Ava, mein Schatz.» Er breitet die Arme aus, und Ava wirft sich hinein wie in ein Bett. Sie hat sich an Fadils Wärme gewöhnt. Sie ist verlässlich und freundschaftlich, aber es fehlt das Glühende. Seine Sexualität ist ähnlich gewesen. Fadils Herz ist wie eine Scheune, weit und leer, und manchmal verliert er sich selbst darin und fühlt sich einsam. Seit ein paar Jahren nimmt er ein Medikament ein, ein Antidepressivum, das ihm hilft, seinen traurigen Frohsinn zu zügeln.
Heilke Tschierschke, die Angestellte von Fadil, kommt auf Ava zu und klopft ihr mit der flachen Hand auf den Arm und lächelt sie mit ihren großen Schneidezähnen an, die eine grobe Gesundheit ausstrahlen. «Ava», sagt sie, «ich seh dich kaum noch, du kommst kaum noch vorbei.»
Das stimmt nicht, denn Ava kommt regelmäßig vorbei, während sich Fadil, seit er mit Heilke eine stille und fast heimliche Beziehung eingegangen ist, kaum noch bei ihnen blicken lässt. Ava weiß, dass er fürchtet, Danilo könnte Heilke ablehnen, und die Befürchtung kann Ava nicht entkräften, Danilo würde Heilke, wenn Fadil sie mit zu ihnen brächte, vermutlich wirklich ablehnen. Heilke streicht sich mit einer Hand über die andere, über ihre langen, glänzenden, aufgeklebten Fingernägel, als wollte sie etwas abwischen. Die Ladenklingel zeigt einen Kunden an, und sie eilt an den Tresen, in ihrem engen grauen Rock, in ihren silber Ballerinaschühchen. Heilke gehört zu der Sorte Frauen, die eilfertig sind und fast ein wenig unterwürfig und sich der Welt nur gepflegt und gekämmt und lackiert zu zeigen wagen. Heilke hat sich treu in Fadils Leben gearbeitet. Sie ist jeden Tag da gewesen, sei es auch nur, weil sie einen Arbeitsvertrag hatte, sie hat jeden Tag gemacht, was er gesagt hat, und hat nie, nie Unmut oder Kritik geäußert. Sie besitzt keine politische Meinung, sie lächelt immer, und wenn es Streit gibt oder Menschen diskutieren, dann schweigt sie und wird ganz runzlig vor lauter Unbehagen.
«Heilke», ruft Fadil ihr hinterher, «ich mach für dich mit.» Dann zieht er Ava in sein Bürokämmerchen und drückt sie auf den Stuhl. Er liebt sie. Die Liebe strömt aus seinem Gesicht und seinen Gesten und jedem ungesagten Wort. Nur kann Ava damit nicht viel anfangen. Sie langweilt sich dabei. Heilke sollte eifersüchtig auf sie sein. Was Heilke ist, weiß aber keiner, weil sie es niemandem zumutet. Wenn Ava darüber nachdenkt und an Danilos vermutliche Abscheu angesichts solchen Menschenschlages, wallt eine große Herzlichkeit in ihr auf. Sie glaubt, sie mag Heilke sehr gern, vor allem auch, weil sie Ava alles lässt, sogar ihren Fadil.
Fadil stellt Kaffee an und sagt mit dem Rücken zu ihr: «Ava, du gefällst mir nicht.»
«Du mir auch nicht», sagt Ava, es soll ein Scherz sein, aber sie könnte weinen, im Moment, denn im Moment weiß sie schon wieder gar nicht, was sie wirklich denkt und fühlt, und weiß nicht, warum alles so schwankt und sich nicht fassen lässt.
«Ich meine es ernst», sagt Fadil. «Ist was mit dir? Du kommst mir nicht froh vor.»
«Nichts ist», sagt Ava. «Ich bin nur müde.»
«Wie geht es Danilo?», fragt Fadil, und die Frage passt ihr nicht. Der Kaffee zischt, im Hof hinter dem kleinen, vergitterten Fenster wird mit Fahrrädern hantiert, und Stimmen hallen, vom Zement gebremst und reflektiert, hell hin und her («Das kannst du doch später … gut, gut … die Stange bei euch oben vorbei, die Stange doch … von dem Schirm … Nein, ich bin in London.»)
Ava empfindet für einen Moment Neid auf das Leben der Fremden im Hof, die in London sein werden und so ungebremst und schnell Informationen im Hof austauschen, weil sie, so scheint es ihr, ein junges, unbeschwertes und buntes Leben führen. Dann fällt ihr wieder Fadils Frage ein. Aber Fadil gießt Kaffee in einen Becher und stellt den Becher auf einen Teller und will eben in den Geschäftsraum rübergehen, als sich die Tür öffnet und Heilke strahlend mit einem kleinen gelben
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