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Eheroman (German Edition)

Eheroman (German Edition)

Titel: Eheroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Seddig
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Kopf ein bisschen zerdrückt ist, ein Rockträger ist von der Schulter gerutscht, und ein Stück Borke hängt in ihrem Haar.
    Ava muss zwar pinkeln, aber eigentlich nicht so dringend, und sie könnte auch im Vereinshaus gehen, wie die anderen. Aber sie muss einfach mal weg hier. Damit der Film aufhört. Sie weiß gerade überhaupt nicht, wer der Falsche hier ist, Andreas, die anderen oder vielleicht sie? Als sie an der Mutter vorbeigeht, sagt die: «Ava, schön heute, nicht?»
    Ava nickt. Auf dem Bürgersteig neben der leeren, dunklen Straße, der Beat der Sechziger von fern dumpf treibend durch das ganze schlafende Dorf hallend, denkt sie immer wieder für sich diese Worte der Mutter, schön heute, nicht? Schön heute, nicht? Ava, ist doch schön heute, nicht?
    Wieso sind alle froh, wieso ist sie so missgünstig statt selber froh, wie alle, wie sogar die Mutter und der Vater mit seinem Wein und seinem streifigen Haar. Sogar der Vater, er hat sein gutes, hellblaues Hemd angezogen und sitzt neben der Mutter, hat seinen Arm um sie gelegt und tätschelt ihren dicken orangefarbenen Oberarm. Und lächelt. Alle lächeln. Alle. Nur Ava nicht.
    Sie schließt die Tür auf und stürzt durch den Flur in die braun gekachelte Toilette neben der Küche und pinkelt und betrachtet dabei die weiß mit Raufaser tapezierte Wand vor sich, die auf der halben Höhe anfängt, über den braunen Kacheln. Die Wand ist ihr so vertraut wie kaum sonst irgendwas auf der Welt. Die Wand direkt vor dem Klo starrt man am meisten in seinem ganzen Leben an, wird ihr bewusst, diesen Fleck, wo man immer sitzt und während des Pinkelns draufstarrt. An der Wand ist ein kleiner Kugelschreiberstrich. Sie weiß noch ganz genau, wie sie selbst diesen Strich mit dem Kugelschreiber dort platzierte. Es ist lange her, es war, als die Mutter badete, spätabends, sie war schon im Bett gewesen, und dann war sie in das warm dampfende Badezimmer zur dicken nackten Mutter gegangen, weil ihr so langweilig und einsam war, weil sie nicht schlafen konnte. Sie hatte den Kugelschreiber von der Ablage im Flur neben dem Telefon mitgenommen, einfach so, ohne Grund, und hatte gesagt: «Mummi, ich mache eine Zeichnung an die Wand.» Die Mutter, dick und schnaufend und mit dem heftigen Gewasche ihrer Beine und ihres Bauches beschäftigt, hatte gesagt: «Ava, das machst du nicht.» Und Ava hatte mit dem Kugelschreiber vor der Mutter gewedelt und gesagt: «Doch, ich mache es, ich mache es, ich mache eine hübsche Zeichnung von dir an die Wa-hand.» Und sie hatte ihre Hand mit dem Kugelschreiber gehoben und langsam, ganz langsam einen kleinen, einen winzig kleinen Bogen an die Wand gezeichnet, es hätte jeder Körperteil der Mutter sein können, denn alles an ihr wäre so bogig gewesen. Die Mutter hatte mit der Dusche den dicklockigen Kopf gespült, das Wasser war ihr über Augen und Gesicht gelaufen, sie hatte mit der Hand über ihren nassen Kopf gestrichen und die Dusche abgestellt. Sie hatte gar nichts gesehen von dem Strich. Sie hatte Ava angelächelt, mit roten Augen, und gesagt: «Ava, ich muss so viel waschen an mir, sei froh, dass du so klein bist und nur so wenig waschen musst an deinem Mäusekörper.» Ava hatte die liebe Mummi so leidgetan, weil sie mit ihrem Körper so viel stöhnende Mühe hatte, dass sie auf keinen Fall mehr wollte, dass die Mutter den Bogen an der Wand bemerkte, denn das hätte sie noch mehr geärgert. Deshalb stand sie da und hielt sich an der Wand und ging auch nicht weg, als die Mutter dampfend aus der Wanne stieg und sich abtrocknete. Sie stand da auch noch, als die dick in ihren Frotteebademantel gewickelte Mutter sich an ihr vorbeiquetschte, barfuß, nasse Schritte hinterlassend, und ins Schlafzimmer eilte.
    Nie hatte später jemand etwas zu dem blauen Strich an der Tapete gesagt, aber er war da, war ein Zeichen von Avas Bosheit der Mutter gegenüber. Und nun hockt sie seit zehn Minuten auf der Klobrille, starrt auf einen Kugelschreiberstrich an der Wand und weiß nicht, was los ist, warum sie sich nicht mehr mit den anderen amüsieren kann und warum ihr Freund ihr nicht gefällt, wenn er sich mit den anderen amüsiert.

    Als sie zurückgeht, langsam, lustlos und voll böser Gedanken, sieht sie zwischen den anderen Danilo sitzen. Zwei Jahre hat sie es vermeiden können, ihn zu treffen, und schließlich hat sie ihn vergessen, weil sie woanders war und ihr Dorf klein und unwichtig geworden, wie auch die Leute, die gespaltene Linde, der

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