Eheroman (German Edition)
weil du ihn nicht gesehen hast, du hast geschlafen. Du hast richtig, richtig geschlafen.»
Andreas schüttelt den Kopf.
«Andreas? Stimmt es noch, dass du mich liebst? Auch wenn wir uns streiten?»
«Es stimmt immer», sagt er.
«Dann ist es gut.»
Er nickt und greift in die Chipstüte, aber in der Chipstüte ist nichts mehr drin.
Ava wacht am Morgen mit dem Wecker auf und denkt daran, dass heute der vierundzwanzigste August ist und Danilos Geburtstag. Sie hat Frühschicht. Sie hat schon sehr früh Feierabend und dann noch genügend Zeit, um über alles nachzudenken.
Es ist ein weißblauer Tag. Die Sonne verschluckt schon am frühen Morgen die Feuchtigkeit der nächtlichen Erde. Die Luft in der Stadt hängt voller Staub, und die alten Gebäude scheinen in der gleißenden Helligkeit zu zerbröseln. Wie betäubt von der weißen Klarheit der Häuser und Schaufenster, der unbarmherzigen Bläue des Himmels zwischen den Wänden aus rotem Stein schlenkert Ava auf dem Fahrrad von Frau Schultetee dem Städtischen Klinikum entgegen. Frau Schultetee hat ihr das Fahrrad vollends überlassen, weil sie mit ihrem Po auf diesem Sitz nicht mehr sitzen kann, «er schwappt seitlich über», sagte sie und schmunzelte mit ihren weichen, dicken Lippen, sodass ihre großen Zähne blassgrau an die Oberfläche getaucht kamen. Die Zähne von Frau Schultetee sind auf eine Art grau, die sauber ist und löcherfrei, kariesfrei. Sie sind auch keinesfalls gelb oder bräunlich, sie sind blassgrau und glänzend. Sie besitzen eine unauffällig gepflegte Oberfläche, und sie sind zu groß, wie glattpolierte Steine aus der Tiefe eines schlammigen Sees. So ist alles an allen Leuten irgendwie anders, als man es allgemein sagen kann, denkt Ava, rückblickend auf die Zähne von Frau Schultetee. Und alles ist auch viel schwieriger, wenn man es beurteilen will. So geht es im Grunde auch dem Vater. Das ist ja das Problem, dass man niemanden in irgendeine Kategorie einordnen kann, nicht einmal seine Zähne. «Nimm es man. Sonst steht es ja doch nur rum», sagte Frau Schultetee, und die weichen Lippen schlossen sich über den Kieseln in ihrem Mund. Und Ava nimmt das Fahrrad nun Tag für Tag und nicht nur nachts wie früher, wenn sie Andreas’ Wohnung, noch warm und rosig von seinem Körper und seiner Decke, verließ, um in ihr Zimmer im Reihenhaus zurückzukehren. Es ist ein hässliches Fahrrad aus dem Supermarkt, wo Frau Schultetee arbeitet, es ist metallicgrau und schwer und hat dicke, blubbernde Schweißnähte an den Stellen, wo Teile zusammenstoßen. Aber es fährt, und es ist besser, mit dem Rad zu fahren, als gequetscht im Bus zu sitzen.
Die hundekotübersäte Rasenfläche des Hotel Seminaris zur Linken, das Gras ein neongrüner Belag unter dem eisblauen Himmel, Ava spürt einen kleinen Schmerz in der Schläfe, an solchen Tagen bekommt sie ein Ziehen in den kleinen Muskeln und Nerven ihres Gesichtes. Solche Tage bergen etwas Gefährliches. Sie entblößen schonungslos die Details der Dinge um Ava herum und geben ihr die Gewissheit, dass sie sich mit all dem abfinden muss und Banalität und Schmutz ihren Alltag bestimmen.
Drinnen herrscht die gleiche neonhelle Schattigkeit wie an allen Tagen. Die Kranken schlurfen seufzend durch die Gänge, die Genesenden und die Hoffnungslosen werden in die Sonne geschoben, so weit man sie dort sitzen lassen kann, einige rauchen in Pantoffeln, den fettigen Bademantel um den dicken Bauch gezurrt und leise hustend am Ausgang nach hinten. Alles beginnt wieder. Sieben Uhr und schon die erste Kippe. So sieht es aus, so geht es immer weiter. Wie sinnlos deren Tage sind, wie wenig sie an ihrem Gesundwerden arbeiten. Ava knallt die Tasche in ihr Fach, und Beate knallt ihre daneben.
«Heut hab ich einen Bock», sagt Beate und rollt sich eine Zigarette zurecht.
«Seit wann drehst du denn?»
«Ich hab kein Geld. Es ist diesen Monat eng, ich geh zu viel saufen. Es geht echt nicht so weiter, Ava, ich brauche einen Freund, wie du, da lebst du echt sparsamer, da gibst du nicht so viel Geld abends aus. Ihr liegt schön zu Hause und seht fern und trinkt Bier von Aldi, und ich zahl drei Mark für ein Bier. Für ein Bier, überleg dir das mal. Und für Cocktails sechs Mark. Das ist ein teurer Preis für ein bisschen Sex, und der ist meistens auch für’n Arsch.»
«Wie? Du zahlst Cocktails für Sex, oder wie?»
Beate lacht heiser und zieht sich aus und holt einen Kittel, den sie sich über ihren sonnenbankgebräunten Bauch
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