Ehrbare Händler: Historischer Kriminalroman (German Edition)
hereinkam. Mit zitternden Händen ordnete sie ihr Kleid, in dem sie geschlafen hatte. Kaum anzunehmen, dass sie noch andere Kleidung besaß.
»Was wollt Ihr?« Ihr Blick war angsterfüllt.
»Du kennst Gabriel von Wiesen?«
Sie schüttelte den Kopf. Mit einer hastigen Bewegung strich sie ihr blond gelocktes Haar aus dem Gesicht.
»Du bist doch Ingrid! Oder?«
Sie schwieg. Nervös kaute sie an ihren Fingernägeln. Hilfesuchend blickte sie immer wieder von einem Besucher zum anderen, sagte aber nichts.
Der Hauptmann wurde ungeduldig. »Was is’ nun? Wir wissen, wie du dein Geld verdienst. Sonst wärst du bestimmt nicht in dieser Absteige gelandet.«
Inzwischen waren die beiden Kinder, eins etwa zwei, das andere ungefähr vier Jahre alt, wach geworden und hatten sich ängstlich unter den Säcken verkrochen. Man hörte sie weinen. Die Frau schaute auf ihre Kleinen herunter, traute sich aber nicht, sich um sie zu kümmern. Sie war durch den Auftritt des Hauptmanns sichtlich eingeschüchtert. Leise, mit zitternder Stimme, antwortete sie: »Nein, nein. Ich wohne nur vorübergehend hier. Bis mein Mann wieder zurück ist.«
»Wir suchen eine Ingrid. Du musst das sein!«
Wolfram war immer lauter geworden und die Frau immer weiter zurückgewichen. Mittlerweile drückte sie sich gegen die Wand. Ihre Arme hatte sie vor der Brust gekreuzt, als erwarte sie jeden Augenblick Schläge. Agnes musste zugeben, dass die junge Frau trotz dieses Elends einen erstaunlich anmutigen Eindruck machte – nicht so wie die drei abgetakelten Buhlerinnen unten im Hof. Sie hatte ein hübsches Gesicht und große, klare Augen. Wie konnte so jemand so weit abrutschen? Was war dieser Frau zugestoßen?
»Eine Ingrid wohnte früher hier. Ich heiße Anneke.«
Wolfram fuhr wieder dazwischen. »Du lügst doch! Soll ich dich erst in den Kerker stecken?«
Sie begann zu weinen.
»Ich warne dich!«
»Moment.« Agnes stellte sich zwischen Wolfram und die Frau.
Er wollte die Nonne einfach zur Seite schieben, aber sie funkelte ihn so wütend an, dass er unvermittelt innehielt. Er ließ seine Hand sinken, die schon auf ihrem Oberarm lag. »Schon gut, schon gut! Dann mach’ du weiter.« Wolfram hob resigniert die Hände und ging zur Tür.
Agnes drehte sich zu der verschüchterten Frau um. »Könnt Ihr uns denn sagen, wo sich Ingrid jetzt aufhält?«
Sie schüttelte nur den Kopf.
»Seit wann ist sie fort?«
Sie zuckte mit den Schultern.
Agnes wusste nicht, ob sie der armen Frau glauben sollte oder nicht. War sie wirklich nicht die Gesuchte? Aber warum sollte sie lügen? Sie atmete tief durch. »Dann müssen wir halt woanders weitersuchen.« Dann griff sie in ihre Tasche und gab der Frau einen Schilling. »Kauft Euren Kindern und Euch etwas zu essen.«
Damit drehte sie sich um und bedeutete Wolfram mit einer Handbewegung zu gehen. Widerwillig trottete er die Treppen hinunter, stieg über die Betrunkene, die inzwischen eingeschlafen war, und marschierte über den Hof. Die drei Dirnen waren glücklicherweise verschwunden.
Missgelaunt und mit verschränkten Armen wartete er auf der Straße, bis Agnes ihn erreicht hatte. »Was willst du nun machen?« Er war eindeutig gereizt. »So erreichen wir nie etwas!«
»Bist du dir sicher?«
»Voll und ganz.«
»Aber wenn dir etwas an meiner Mithilfe gelegen ist, machen wir es auf meine Art. Wenn man alle Leute nur anschreit und ihnen droht, werden sie nur noch verstockter. Mit Rücksichtnahme kommt man oft eher zum Ziel.«
»Ja, ja! Die Litanei kenne ich schon. Das brauchste mir nicht schon wieder zu erklären.«
»Gut. Dann lass uns zurück zum Badehaus gehen. Wir sollten besser mit der Frau sprechen, die uns den Zettel zugesteckt hat.«
Schweigend machten sich die beiden wieder auf dem gleichen Weg zurück.
Beim Bürgermeister
Wer konnte Auskunft darüber geben, welchen Wert das Geschäft des Händlers nun wirklich hatte? Wer wusste die genaue Höhe der möglichen Schulden? Die Witwe blockierte die Ermittlungen, aus welchen Gründen auch immer. Der Kontorsgehilfe weigerte sich, obwohl er es eigentlich wissen musste. Der Lagerverwalter kannte zwar den Warenbestand sehr gut, aber ihm fehlte die Gesamteinschätzung. Was nun?
Ludolf ging gezwungenermaßen wieder zum Rathaus. Die Ratsherren hatten ihm am Tag zuvor nicht viel zu den Schulden sagen können, aber unter Umständen konnten sie etwas mehr über den Wert sagen.
Er musste nicht lange warten, schon nach einigen Augenblicken wurde er in den
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