Ehre sei dem Vater (German Edition)
Arme genommen,
ihm gesagt, dass sie alle seine Zweifel und Bedenken verstehen würde. Dass sie,
wenn es sein müsste, bis ans Ende aller Zeiten auf ihn warten würde, aber das
hatte sie schon viel zu oft getan. Nun war es endlich an der Zeit, Zeichen zu
setzen.
„Ich kann und will nicht mehr!“, sagte sie
plötzlich mit fester Stimme. Sie erhob sich, nahm ihr Schreibzeug in die Hand
und verließ fluchtartig das Büro, ohne Alexander noch einmal anzusehen.
Allerdings auch, ohne einen Blick in irgendeinen Spiegel zu werfen. Ihre rot
geäderten, stark verschwollenen Augen leuchteten gespenstisch unter dem
Neonlicht der Amtsstube. Die schwarze Wimperntusche hatte eine verwischte,
kurvenreiche Bahn gezogen, welche sich erst zwischen Nasenflügel und
Mundwinkeln langsam auflöste. Dafür hatten die durchweichten Taschentücher den
knalligen Lippenstift perfekt über die gesamte untere Gesichtshälfte verteilt,
als sie sich auf ihren Drehstuhl fallen ließ. Ihr Blick war starr gegen die
Decke gerichtet, als plötzlich jemand lauthals „Oh Gott!“ rief.
Christine war bereits aufgestanden, als
Verena blitzartig begriff, in welche unmögliche Situation sie sich in diesem
unbedachten Moment manövriert hatte.
„Schätzchen, was war denn da drinnen los? Er
wird dich doch nicht etwa gekündigt haben?“
„Gar nichts war los, ich habe nur plötzlich
einen Allergieschub bekommen. Heuschnupfen, du weißt ja wie das ist“ gab sie
schlagfertig zur Antwort, während sie inständig im Moment hoffte, glaubwürdig
zu wirken. „Seit wann hast du denn Heuschnupfen? Ist es Anfang April nicht zu
früh für so etwas? Na gut, ich kenne mich ja nicht besonders aus in solchen
Sachen, aber wie kann man sich denn in einem geschlossenen Raum einen
Heuschnupfen holen?“ Zum ersten Mal seit Verena ihre Kollegin kannte,
hinterfragte sie, was man ihr sagte. Musste das gerade heute sein? Mit weit
aufgerissenen Kulleraugen wurde sie von Christine weiterhin prüfend ins Visier
genommen, während sie krampfhaft nach einer plausiblen Erklärung suchte. „Da
drinnen stand so…, so…., so ein riesiger Strauß mit Blumen und allen möglichen
Gräsern“, sagte sie stockend und wies gleichzeitig mit dem Zeigefinger in
Richtung von Alexander Bittermanns Büro.
„Unglaublich, und ich habe das Ungetüm noch
nicht einmal bemerkt, als ich heute Morgen die Postmappe ins Büro des Amtsleiters
trug. Das darf doch nicht wahr ein! Womöglich sehe ich nach meiner Besprechung
heute Nachmittag auch so entsetzlich aus wie du! Ich sorge sofort dafür, dass
dieses Gift entfernt wird!“ Voller Tatendrang setzte sie sich in Bewegung.
„Halt!“, entfuhr es Verena, „ Den Weg kannst
du dir sparen, Herr Bittermann hat den Strauß schon selbst entsorgt, als er
meine allergische Reaktion bemerkte.“
Hätte man irgendjemand anderem einen
derartigen Bären aufgebunden, hätte der wahrscheinlich gelacht und nicht mehr
nachgefragt. Bei Christl lag die Sache leider anders. Sie konnte nicht mehr
aufhören, Verena mit Fragen über das seltsame Blumenbukett zu löchern. „Wie
sahen die Blumen denn genau aus? Gibt es solche Pflanzen auch bei uns? Woher
hat Herr Bittermann die wohl gehabt?“
Verena ließ die Fragen scheinbar geduldig
über sich ergehen, wartete dann eine Atempause ihrer schnatternden Kollegin ab
und verzog sich mit ihrer Handtasche ins WC. Tief ausatmend sperrte sie die Tür
hinter sich zu und lehnte sich erschöpft dagegen, als würde die Umdrehung des
Schlüssels nicht ausreichend Schutz vor Eindringlingen bieten. „Sch……!“, entfuhr
es ihr, als sie den ersten Blick in den überdimensional großen Spiegel des
kleinen, grell erleuchteten Raums warf. Selbst nachdem sie die schlimmsten
Spuren von verronnenem und verwischtem Make-up entfernt hatte, bot sie einen
jämmerlichen Anblick.
Mutlos ließ sie sich auf den Deckel der
Klomuschel fallen. Was hatte sie nur gemacht? Sie wollte ihm doch nur einen
kleinen Denkanstoß geben. Musste sie wirklich gleich alle Register ziehen?
Anna kannte die Albträume ihres Mannes nur zu
gut. Das heißt, eigentlich nur die Auswirkungen seiner nächtlichen Ausflüge,
und obwohl sie ihr den Schlaf raubten, konnte sie nicht umhin, diesen
gespenstischen Szenen einen gewissen Reiz abzugewinnen. In solchen Nächten
schien seine Unnahbarkeit für einige Augenblicke ein klein wenig zu bröckeln
und sie hatte das Gefühl, ihm zu keiner Zeit ihrer Ehe näher zu sein, als in den
Momenten seines Erwachens. Es tat
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