Ehrensache
noch nicht wusste...
»Ach übrigens«, sagte er, »wegen dieser Telefonanrufe...«
»Was für Anrufe?«
»Die Mr. Jack bekommen hat. Die anonymen.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Außerdem muss ich jetzt Schluss machen. Meine Mutter erwartet
mich um Viertel vor acht zu Hause.«
»Alles klar, Miss Gr...« Doch sie hatte bereits den Hörer aufgelegt.
Golf? Heute Nachmittag? Da musste Jack aber ziemlich enthusiastisch sein. In Edinburgh hatte es
seit dem Mittag ununterbrochen geregnet. Rebus sah aus seinem ungeputzten Fenster. Jetzt regnete
es nicht, aber die Straßen glänzten. Die Wohnung kam ihm plötzlich leer und kälter denn je vor.
Er nahm den Hörer ab und wählte eine weitere Nummer. Die von Patience Aitken. Um ihr zu sagen,
dass er jetzt losführe. Sie fragte ihn, wo er wäre.
»Ich bin zu Hause.«
»Oh? Um noch mehr von deinen Sachen zu holen?«
»Genau.«
»Du könntest einen zweiten Anzug mitbringen, wenn du einen hast.«
»Ja.«
»Und ein paar von deinen geliebten Büchern, da du ja offenbar meinen Geschmack nicht
teilst.«
»Liebesschnulzen waren noch nie mein Fall, Patience.« In der Literatur wie im Leben, dachte er
bei sich. Um ihn herum auf dem Fußboden lagen einige von seinen »geliebten Büchern« verstreut. Er
hob eines auf und versuchte, sich zu erinnern, wann er es gekauft hatte. Es gelang ihm aber
nicht.
»Bring mit, was du willst, John, und so viel du willst. Du weißt doch, wie viel Platz wir hier
haben.«
Wir. Wir haben.
»Okay, Patience. Bis nachher.« Seufzend legte er den Hörer wieder auf und blickte um sich. Nach
all den Jahren waren immer noch Lücken auf den Regalen an der Wand, wo seine Frau Rhona
ihre Sachen weggenommen hatte.
Auch in der Küche gab es Lücken, dort wo der Trockner gestanden hatte und ihre geliebte
Spülmaschine. Immer noch waren saubere rechteckige Flächen an den Wänden, wo ihre Poster und
Drucke gehangen hatten. Wann war die Wohnung das letzte Mal renoviert worden - 1981 oder 1982?
Dafür sah sie gar nicht so schlimm aus. Wem wollte er das denn weismachen? Hier sah es aus wie in
einem besetzten Haus.
»Was hast du aus deinem Leben gemacht, John Rebus?«
Die Antwort lautete: nicht viel. Gregor Jack war jünger als er und erfolgreicher. Barney Byars
war jünger als er und erfolgreicher. Wen kannte er, der älter war als er und weniger erfolgreich? Keine Menschenseele, abgesehen von den Bettlern in der Innenstadt,
mit denen er den Nachmittag zugebracht hatte - ohne Ergebnis, aber mit dem unguten Gefühl,
irgendwie dazuzugehören...
Was waren das denn für Gedanken? »Du wirst langsam zu einem morbiden alten Knacker.«
Selbstmitleid war keine Lösung. Zu Patience zu ziehen, das war die Lösung...
Aber warum schien er nicht so recht daran zu glauben?
Warum kam ihm das eher wie ein weiteres Problem vor?
Er lehnte den Kopf gegen den Rücken des Sessels. Ich stecke in der Klemme, dachte er, wenn auch
in einer gut gepolsterten. Er saß lange Zeit so da und starrte an die Decke. Draußen war es
dunkel und neblig. Von der Nordsee zog ein kalter Nebel herein und breitete sich über der Stadt
aus. Bei einem solchen Nebel schien Edinburgh sich in die Vergangenheit zurückzubewegen. Beinah
erwartete man, Presspatrouillen auf der Suche nach Burschen zum Anheuern auf Schiffen in den
Straßen von Leith zu sehen, Kutschen zu hören, die über das Kopfsteinpflaster rumpelten, und Rufe
auf der High Street: Vorsicht, Wasser.
Wenn er die Wohnung verkaufte, könnte er sich ein neues Auto kaufen und Samantha etwas
Geld überweisen. Wenn er die Wohnung verkaufte... wenn er bei Patience einzog
...
»Wenn Scheiße aus Gold wäre«, pflegte sein Vater immer zu sagen, »dann hättest du eine Tülle am
Arsch.« Der alte Mistkerl hatte nie genau erklärt, was eine Tülle war...
Mein Gott, wie kam er denn jetzt darauf?
Es hatte keinen Zweck. Er konnte nicht klar denken, jedenfalls nicht hier. Vielleicht barg seine
Wohnung zu viele Erinnerungen, gute und schlechte. Vielleicht lag es auch bloß an der
Abendstimmung.
Oder vielleicht war es auch das Bild von Gill Templers Gesicht, das immer wieder ungebeten
(zumindest redete er sich das ein) vor seinem geistigen Auge erschien...
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5. Flussaufwärts
Einbruch mit schwerer Körperverletzung, genau das Richtige für einen trüben Donnerstagmorgen.
Das Opfer lag im Krankenhaus, den Kopf verbunden, das Gesicht übel zugerichtet. Rebus hatte mit
der Frau gesprochen und war nun in ihrem Haus in der Jock's
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