Ehrensachen
auf.
Offenbar hatten sie Dinnergäste gehabt. May trug einen langen Rock und Cousin Jack eine seiner Smokingjacken aus Samt. Ich dankte ihnen für die Blumen, die sie in die Klinik geschickt hatten. O ja, sagte May, deine Mutter hat schon geschrieben. Wir tranken Scotch mit Soda, und George und ich besprachen unsere Fahrt nach Cambridge; er wollte mich im Auto mitnehmen. Er hatte zusammen mit ein paar Yalies, mit denen er in die Schule gegangen war, ein Haus an der Garden Street gemietet und wollte dort einziehen, bevor das Semester an der Law School anfing. Ich wollte gerade gehen, da sagte Cousin Jack, er würde mich gern kurz sprechen. Ich folgte ihm zur Gartenveranda. Er bedeutete mir mit einer Geste, Platz zu nehmen, setzte sich und bot mir eine Zigarre an, die ich ablehnte. Nach New Orleans hatte ich mit dem Rauchen aufgehört; außerdem waren seine Zigarren viel größer und stärker im Aroma als alles, was ich je probiert hatte.
Dein Vater ist ein schwerkranker Mann, sagte er. Ich habe mit Pete Pierson geredet.
Das wundert mich, erwiderte ich. Als wir mit Dr. Pierson sprachen, klang er optimistisch.
Jack studierte das brennende Ende seiner Zigarre undnahm einen tiefen Zug. Ärzte haben unterschiedliche Geschichten parat, je nachdem, mit wem sie reden, erklärte er mir. Bei der Operation konnten sie nicht das gesamte kranke Gewebe entfernen. Was sie unternommen haben, war natürlich notwendig. Ohne den Eingriff hätte er starke Beschwerden gehabt.
Ich nickte.
Deiner Mutter mußt du es nicht erzählen, fügte Jack hinzu. Alles zu seiner Zeit. Ich dachte, einer von euch sollte es wissen, und zwar am besten du.
Wieder nickte ich wortlos.
Und was ich dir noch sagen wollte, fuhr er fort: Deine Mutter wird gut versorgt sein; darum brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Darum wird sich die Bank kümmern.
Ich dankte ihm; dies sei eine große Erleichterung, vor allem, da ich fast nichts über die Finanzlage meiner Eltern wisse.
Schon gut, erwiderte er. Dein Vater ist mein Cousin. Ich wünschte, ich hätte besser auf ihn aufgepaßt.
Anfangs unternahm Dr. Reiner nichts gegen meine Suche nach Erklärungen für das Durcheinander widerstreitender Emotionen, das mich seit meinem Besuch in Lenox umtrieb. Aber ich sah selbst, daß ich mich im Kreis drehte, und nachdem er mir eine Woche lang zugehört hatte, sagte er, es sei besser, das Thema ruhen zu lassen, bis ich in der Lage sei, es mehr von außen zu betrachten. Also schlug ich mich allein mit den Geheimnissen der Familie Standish herum; meine seltenen Fahrten nach Lenox brachten wenig Licht ins Dunkel. Zwei Wochen vor Thanksgiving teilte Dr. Pierson meinen Eltern mit, daß der Tumor Metastasen gebildet hatte. Er riet nicht zu einer neuen Operation. Die Pflegerin aus Housatonic kam wieder und wurde nachtsvon einer anderen Irin aus West Stockbridge abgelöst. Ich fuhr oft nach Lenox und war Weihnachten, Neujahr und in der Woche zwischen den Feiertagen dort. Es war nicht zu übersehen, daß meine Mutter sich zu Hause eingesperrt fühlte und klaustrophobisch war. Ich ging mehrmals mit ihr ins Kino; welchen Film sie sah, war ihr gleichgültig. Als May Standish mich zum Neujahrsessen einlud, überraschte sie mich, indem sie sagte, sie hoffe, ich würde meine Mutter mitbringen. Meine Mutter dachte darüber nach und sagte, sie komme mit.
Mein Vater hatte noch sechs Wochen zu leben, die beiden letzten davon in der Klinik. Als er starb, war ich in Cambridge und fuhr zu seiner Beisetzung im Familiengrab in Stockbridge. Weder Henry noch Archie kamen zum Begräbnis meines Vaters. Archie war schon zu einem Militärstützpunkt in Pusan abkommandiert; Henry befand sich in einem Trainingslager zur Infanterieausbildung.
Kurz vorher, Anfang Februar, war ein Brief von dem New Yorker Verlag gekommen, dem ich auf Professor MacLeishs Rat mein Manuskript geschickt hatte. Als ich diesen Brief gelesen und verstanden hatte, verschlug es mir den Atem. Der Verleger war bereit, mein Buch zu publizieren und mir einen Vorschuß zu zahlen. Keine große Summe, aber ich hatte auf meinem Konto außer dem Geld, das an Dr. Reiner weitergegeben werden mußte, nie mehr als ein paar hundert Dollar gehabt. Ich rief Professor MacLeish an – das hatte ich noch nie gewagt – und danach Tom Peabody. Meine Eltern rief ich nicht an. Was ich geschrieben hatte, würde meine Mutter verletzen und meinen Vater wahrscheinlich sogar mehr, wenn er noch lange genug lebte, um es lesen zu können, das wußte
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