Ehrensachen
Drohungen nichts Neues, aber trotzdem versuchte er, seinen Sohn in den nächsten beiden Tagen zu erreichen, vielleicht viermal, denn er wollte, daß Henry die Mutter anrief und sich entschuldigte. Ihr ein wenig Zuneigung zeigte. Jedesmal sagte der Soldat, der den Anruf annahm, Henry sei nicht da, man könne eine Nachricht für ihn hinterlassen. Daß man Henry nicht erreichte, war auch nichts Neues, und ohnehin war verabredet, daß er in zwei Tagen wieder anrufen sollte. Als er es nicht tat, schickte ihm Mrs. White ohne Wissen ihres Mannes ein Telgramm: »Eltern krank, sofort anrufen.« Sein Anruf kam am nächsten Tag, spätabends diesmal, als Mr. White zu Hause war, so daß er hörte, wie sie zu Henry sagte, sein Vater habe keinen Herzinfarkt gehabt, aber nein, wie es dem Vater gehe, könne sie ihm nicht sagen, und so weiter. Dann stritten sie heftig, und Henry legte wieder auf. Am nächsten Tag rief sie in Fontainebleau an, verlangte Henry und sagte, es handle sich um einen medizinischen Notfall. Sie wurde durchgestellt zu einem Sergeant, der sagte, er bedaure, aber der Stabsgefreite White habe Urlaub genommen. Sie wartete, er besprach sich mit jemandem und kam schließlich wieder zum Telefon, um ihr mitzuteilen, daß in der Schreibstube niemand wisse, wo ihr Sohn zu erreichen sei.
Irgendwie überstanden sie Rosh Hashanah und hatten am Abend des zweiten Feiertags sogar zwei Paare aus Krakau zu Gast, die sie noch aus der Zeit vor dem Krieg kannten. Aber als er am Tag danach aus der Fabrik nach Hause kam, fand er auf dem Teppich in der Diele einen Zettel.
Hier, sagte er, zog ein zusammengefaltetes Stück Papier aus seiner Jackentasche, strich es glatt und gab es mir.
Ich warf einen Blick auf das Geschriebene und machte Mr. White darauf aufmerksam, daß es Polnisch war.
Entschuldigung, sagte er. Meine Frau sagt Lebewohl und bittet mich, Henry daran zu erinnern, daß dies der Jahrestag ihres Abschieds von den Eltern ist, die sie zum letzten Mal sah, als sie nach Zakopane aufbrachen. Entschuldigung, sagte er noch einmal und begann zu schluchzen.
Ich umarmte ihn wieder und strich ihm über den Rücken. Er beruhigte sich so weit, daß er mit seiner Geschichte fortfahren konnte: er sei ins Schlafzimmer gestürzt; dort habe sie auf ihrem Bett gelegen, im Nachthemd, mit weit offenem Mund und gespreizten Beinen. Er konnte keinen Puls fühlen. Ein Arzt, dessen Praxis nur zwei Querstraßen entfernt ist, kam sofort, obwohl sie nicht zu seinen Patienten gehörten, untersuchte sie und sagte, er bedaure sehr, aber das Herz schlage nicht mehr, und es gebe auch keine anderen Lebenszeichen. Dann zeigte er auf Mrs. Whites Arm, der bis zum Boden herabhing, ging in die Knie und schaute genau an der Stelle, wo ihre Hand den Teppich berührte, unters Bett.
Da haben wir’s, sagte er und richtete sich wieder auf.Leer. Seconal. Wissen Sie, wie viele Tabletten sie genommen hat?
Als Mr. White verneinte, schüttelte der Arzt den Kopf und erklärte ihm, da Mrs. White nicht seine Patientin gewesen sei, könne er die Todesursache nicht mit Sicherheit feststellen. Mr. White solle die Polizei rufen. Es dauerte mehr als zwanzig Minuten, bis die Polizei eintraf, der Arzt war inzwischen gegangen. Zwei Polizisten und zwei Sanitäter kamen. Einer sah sich um und sagte: Selbstmord. Hat sie einen Brief oder etwas Ähnliches hinterlassen? Während Mr. White erklärte, daß er den Brief in polnischer Sprache gefunden hatte, und anfangen wollte, ihn zu übersetzen, sah er, daß einer der Sanitäter in einem Wiederbelebungsversuch auf den Brustkorb seiner Frau drückte, während der andere eine gefüllte Spritze hochhielt, um die Luft herauszulassen.
Sie ist nicht tot, sagte er. Ich gebe ihr jetzt Adrenalin. Los, wir müssen sie hier herausbringen.
Sie sagten ihm, sie würden zum King’s County Hospital fahren, und er folgte ihnen in seinem Wagen. Das war vor fast drei Stunden gewesen. Nachdem sie ihr in der Notaufnahme den Magen ausgepumpt hatten, teilte ihm der behandelnde Arzt mit, sie liege in einem tiefen Koma, aber sie lebe. Darauf wurde sie auf die Intensivstation gebracht.
Ich wußte nicht, wie ich ihn beruhigen oder was ich als nächstes tun sollte, also fragte ich ihn, ob er vielleicht einen Kaffee und ein Sandwich oder einen Doughnut aus der Cafeteria haben wollte. Zuerst konnte er weder essen noch trinken, aber als ich ihm klarmachte, daß er wirklich die Pflicht habe, bei Kräften zu bleiben, willigte er ein, einen Kaffee mit Sahne und
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