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Ehrensachen

Ehrensachen

Titel: Ehrensachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Begley
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verlieren.

XXII
    Gegen ein kleines Schlüsselgeld ebnete der Hausverwalter mir den Weg zu einer Wohnung mit Mietpreisbindung an der East 36 th Street zwischen Lexington und Park Avenue. Nach drei Monaten in dem möblierten Apartment eine Querstraße weiter, in dem ich seit meinem Umzug aus Cambridge gewohnt hatte, war ich überzeugt, daß Murray Hill mich abstieß. Aber die Miete, die ich jetzt für ein großes Apartment mit zwei Schlafzimmern zahlte, betrug nur ungefähr ein Drittel von dem, was mich das möblierte Studio gekostet hatte, und gemessen an den Wohnungsanzeigen in der Times konnte ich in ganz Manhattan kein ähnlich günstiges Angebot finden, es sei denn, ich war bereit, in Harlem oder an der Lower East Side zu wohnen. Einen zufälligen Vorteil hatte die Gegend: Die Praxis von Dr. Kalman, dem New Yorker Kollegen, an den Dr. Reiner mich überwiesen hatte, war nur zwei Querstraßen weiter, gegenüber vom Union League Club, für mich ein Fußweg von fünf Minuten. Bis zur für Mitte November geplanten Veröffentlichung meines Buches war noch ein Monat Zeit, aber der Verlag hatte schon vor längerer Zeit Vorausexemplare an Rezensenten geschickt, und die ersten Reaktionen waren erfreulich, wie mein Lektor mir sagte. Er meinte, daß vielleicht die Times und Herald Tribune ein Interview mit mir machen würden. In der Zwischenzeit versuchte ich auf seinen Rat hin, mich zu beschäftigen und auf andere Dinge zu konzentrieren. Ich begann einen neuen Roman und kaufte Möbel für meine Wohnung. Eines Abends – ich wollte gerade zum indischen Restaurant an der Ecke gehen und stand schon in der Tür – klingelte das Telefon. Bevor der Mann am anderen Ende der Leitung seine Frage, ober mich sprechen könne, zu Ende gebracht hatte, erkannte ich seine Stimme: Es war Henrys Vater. In Sorge vor dem, was er mir wohl mitteilen wollte, sagte ich: Mr. White? Ist etwas passiert?
    Es muß ihn sehr viel Überwindung gekostet haben, mich anzurufen. Er wollte sich nicht unterbrechen lassen, und bevor er meine Frage beantwortete, erklärte er erst umständlich, wer er sei. Ja, es sei etwas passiert: mit Mrs. White. Ob ich sofort kommen könne? Er gab mir Namen und Adresse des Kings County Hospital in Brooklyn und beschrieb mir, wie ich mit der U-Bahn dorthin fahren sollte. Sie seien in der Notaufnahme. Aber ich solle lieber ein Taxi nehmen, das sei um diese Tageszeit viel schneller. Er würde es bezahlen. Ich hielt an der nächsten Straßenecke ein Taxi an. Der Fahrer kannte sich in Brooklyn nicht aus, aber nachdem wir zweimal an Tankstellen angehalten und nach dem Weg gefragt hatten, brachte er mich schließlich zu dem Krankenhaus, das sich in einer heruntergekommenen Gegend seitab von einem breiten Boulevard befand. Die Krankenschwester in der Notaufnahme sagte mir, daß Mrs. White auf die Intensivstation verlegt worden war. Ihr Ehemann warte wahrscheinlich im Flur vor der Station. Da fand ich ihn auch, er war allein und saß auf einem Stuhl. Die anderen schienen als Familien in Gruppen gekommen zu sein.
    Er stand auf und umarmte mich. Ich merkte, daß er zitterte, und fragte, was geschehen sei.
    Ich weiß nicht, wo Henry ist, sagte er. Ich dachte, ich könnte mit Ihnen reden. Sie hat sich umgebracht.
    Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich neben ihn, und während wir warteten, daß jemand kam und uns berichtete, wie es um sie stand, erzählte er mir nach und nach, wie Mrs. White bei einem Telefonat mit Henry – er rief sie jede Woche zweimal an, mit R-Gespräch – erfuhr, daß erzehn Tage Urlaub beantragt hatte. Dann kommst du zu den Feiertagen nach Hause, schrie sie fast. Später erzählte sie Mr. White, bei dem Gedanken, ihn zu Rosh Hashanah oder Yom Kippur zu Hause zu haben, sei sie beinahe ohnmächtig geworden vor Freude. Henry erwiderte, das sei ganz unmöglich. Er habe schon Pläne mit anderen Leuten gemacht – mit Freunden; er werde nach Gent, Amsterdam und Delft reisen. Sie wissen, wie Mütter sind, fuhr Mr. White fort, Sie kennen meine Frau, sie stritt mit ihm, und er legte einfach auf. Bei einem Gespräch mit seiner eigenen Mutter! Sie versuchte sogar, zurückzurufen, aber es nützte nichts. Henry hatte von einer Telefonzelle aus angerufen. Als er, Mr. White, nach Hause gekommen sei, habe er nicht gewußt, was er mit ihr machen sollte. Sie sah krank aus und wiederholte ihm immer wieder, sie werde sich vor die U-Bahn werfen, und bat ihn, er solle Henry anrufen.
    Wenn sie sich sehr aufregte, waren solche

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