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Ehrensachen

Ehrensachen

Titel: Ehrensachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Begley
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Eis zu holen, und in der Speisekammer die Zutaten für Martinis zusammensuchte. Ich fragte mich, ob sie genauso gut würden wie die meines Vaters, und überlegte, welche Probleme oder Laster diesen gutaussehenden, sorglos wirkenden Mann von den Töchtern und ihrer unsäglichen Mutter entfernt und ins Riggs gebracht haben mochten.
    Er ist doch nett, meinst du nicht? flüsterte meine Mutter. Es hilft sehr, daß er aus guter Familie ist. Gerade bevor du kamst, hat May Standish angerufen. Sie hat mich aufgefordert, ihn zu der Party mitzubringen, die sie für dich geben, und sie hat uns beide zu ihrem Neujahrsessen eingeladen. Kannst du dir das vorstellen? Deinen Vater und mich hat sie nicht ein einziges Mal eingeladen.
    Das Datum und die Uhrzeit von Henrys Anruf haben sich mir so genau eingeprägt wie sonst nur Alpträume. Valentinstag, gegen sieben Uhr abends. Ich hatte den Tag spät begonnen, da ich erst am Abend vorher aus San Francisco zurückgekommen war, wo ich zwei Wochen lang ein Seminar in Berkeley gegeben hatte. Der Bote des Blumengeschäfts weckte mich mit dem Geschenk von meiner Mutter, einer großen weißen Azalee. Ich rief sie an, um ihr zu danken, erledigte die üblichen Hausarbeiten, ging dann in die Bibliothek an der 42 nd Street und blieb den Rest des Tages dort, mit einer Unterbrechung; ich aß im Harvard Club einen Hamburger. Als ich am Abend die Tür zu meinem Apartment aufschloß, hörte ich das Telefon klingeln. Ich merkte sofort, daß etwas Entsetzliches passiert sein mußte: Der Anrufer war Henry, und ihm versagte die Stimme, sein Mund schien ganz ausgetrocknet, er rang nach Luft und keuchte immer nur: Bitte komm sofort, um Gottes willen, komm her. Ich fragte, wo er sei. Zu Hause, sagte er, bitte, beeil dich. Innerhalb von Minuten war ich mit einem Taxi auf dem Weg in die Dorchester Road. Er wartete an der Treppe vor dem Haus auf mich. Diesmal hat sie es geschafft, sagte er, sie ist wirklich tot. Er führte mich die Treppe hinauf ins Schlafzimmer seiner Eltern. Dort war Mr. White, er weinte.
    Sie ist hier drin, sagte Henry und öffnete die Tür zum Bad.
    Mrs. White, nur mit einem Nachthemd bekleidet, lag in einer Blutlache. Ihr Kopf war seitlich verdreht, als ob sie mit letzter Kraft versucht hätte, über ihre Schulter zu blicken.
    Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten, sagte Henry.
    Ein offenes Rasiermesser lag zwischen ihren Beinen in der Falte des Nachthemds, da, wo es ihr aus der Hand gefallen war. Wie lange liegt sie schon so? fragte ich. Habt ihr die Polizei angerufen?
    Nein, sagte Henry. Er läßt mich nicht ans Telefon. Ich mußte ihn anflehen, damit ich dich anrufen konnte. Er hat den Verstand verloren. Sprich du doch mit ihm.
    Mr. White, rief ich, es tut mir so leid. Wir müssen die Polizei holen. Bitte, verstehen Sie doch.
    Er gab keine Antwort und rührte sich nicht. Ich wandte mich zu Henry und sagte: Tu du es. Bitte, ruf an. Du mußt.
    Die Geschichte, die ich mir zusammenstückelte, in jener Nacht mit Henry im Leichenschauhaus, dann gegen Morgen, als wir in dem Lokal an der Ecke Flatbush und Church, in dem ich mit Mr. White gewesen war, allein zusammen aßen – denn Mr. White konnte kein Essen bei sich behalten –, und später am Vormittag in dem Bestattungsinstitut, in dem Henry und ich die Formalitäten für die Beerdigung erledigten – diese Geschichte war eine Mischung aus dem alten Familienelend und neuen spezifischen Horrorvisionen. Vater und Sohn White waren mittlerweile offensichtlich nicht mehr zum Handeln in der Lage, sie konnten nur beharrlich wiederholen, daß Mrs. White beerdigt werden müsse, eine Einäscherung würden sie nicht zulassen. Davon abgesehen waren sie bloß zu Gesten fähig, die mir offenbar bedeuten sollten: Ich kann nicht antworten, mach du es. Schließlich erledigte ich die Dinge, von denen ich meinte, sie müßten getan werden, obwohl ich keine Erfahrung mit dem Tod hatte und nicht wußte, wie man sich um die Toten kümmert; die Beerdigung meines Vaters hatte meine Mutter bis in alle Einzelheiten geregelt. So nahm ich mir Whites Adreßbuch vor und rief Leute an, die zunächst offenbar mißtrauisch wegen meiner akzentlosen amerikanischen Artikulation waren und dann, wenn ich ihnen meine Beziehung zu den Whites erklärte, unnatürlich höflich wurden und mich in sorgfältig gewählten Redewendungen auf Konventionen ansprachen, die ich nicht verstand.
    Henry war mit fünf Tagen Noturlaub nach Hause gekommen. Gleich nach dem Eintreffen hatte er

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