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Ehrensachen

Ehrensachen

Titel: Ehrensachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Begley
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Rolle.
    Er kam am Morgen gegen zehn. Sein Vater war zu Hause geblieben und nicht in die Fabrik gegangen. Beide Eltern machten ausdruckslose, steinerne Gesichter, und als er sie ansprach, blieben sie nicht nur stumm, sondern sahen ostentativ an ihm vorbei. Diese Form der Bestrafung war ihm nicht neu. Seine Mutter wendete sie bei gravierenden Vergehen an. Aber daß sein Vater mitmachte, kam zum erstenmal vor. Nach einer Weile gab Henry auf und ging nach oben, um ein Bad zu nehmen und sich umzuziehen. Als er wiederkam, war sein Vater gegangen. Die Mutter saß amFenster und starrte blicklos hinaus. Er sprach mit ihr, er bat sie, ihm zu verzeihen. Nichts. Er ging aus dem Haus, lief herum, sah in einer Frühvorstellung einen halben Film und war um halb drei wieder zurück. Sein Vater war auch nach Hause gekommen und begrüßte ihn mit der Frage: Wo bist du gewesen? Deine Mutter mußte mich in der Fabrik anrufen, weil du verschwunden warst. Was hätte ich denn machen sollen, antwortete Henry, du wolltest nicht mit mir reden, Mutter wollte nicht mit mir reden, also bin ich gegangen, und jetzt bin ich wieder da. Einiges Gebrüll folgte, aber inzwischen hatte er die Ohren auf Durchzug gestellt, denn er mußte packen und zum Flughafen aufbrechen. Er ging nach oben, warf die Sachen, die er nach Frankreich mitnehmen wollte, in seinen Matchsack, zog die Uniform an und ging mit dem Gepäck wieder hinunter. Sie saßen da, als hätten sie auf ihn gewartet. Ich gehe jetzt, sagte er in ihre Richtung. Danke für einen wunderbaren Besuch.
    Sein Vater versperrte ihm die Tür und erklärte: So kannst du nicht gehen. Du mußt dich bei deiner Mutter entschuldigen. Gut, antwortete er, ich entschuldige mich, es tut mir leid, ich bereue alles, und jetzt auf Wiedersehen. Und versuchte, ihr einen Kuß zu geben. Sie stieß ihn weg und sagte: Wenn du jetzt gehst, siehst du mich zum letztenmal in meinem Leben. Nein, das stimmt nicht, erwiderte er, sagte noch mal auf Wiedersehen und küßte seinen Vater, der es zuließ. Inzwischen schrie seine Mutter: Du kannst ihn nicht gehen lassen, du kannst ihn nicht gehen lassen, ich sterbe, ich weiß es. An diesem Punkt sei er so verwirrt gewesen, sagte Henry, daß er nicht mehr gewußt habe, ob er Englisch oder Polnisch sprach, und als er versucht habe, Polnisch zu sprechen, sei es ihm nicht möglich gewesen. Die Worte seien nicht mehr dagewesen. Er habe die beiden angesehen und ihnen sehr verunsichert auf englisch erklärt, es habe keinen Sinn, zu streiten, er müsse jetzt sofort zum Flughafen und indie Maschine einsteigen, sonst sei es unerlaubte Entfernung von der Truppe. Erst nach einer Weile kam ein leeres Taxi an der Ecke Flatbush Avenue vorbei, wo er wartete. Er stieg ein und schlief, bis sie am Flughafen angekommen waren. Als er am Schalter stand und seine Bordkarte in Empfang nehmen wollte, sagte der Mann vom Bodenpersonal, es sei ein Notfall eingetreten, er solle sofort zu Hause anrufen. Obwohl er überzeugt war, dies sei wieder nur ein Trick seiner Mutter, ging er zum Telefon und erfuhr, was geschehen war.
    Den Rest hörte er von seinem Vater: Seine Mutter habe gesagt, sie sei erschöpft und brauche eine Schlaftablette. Gut, habe er gesagt, ich hol dir eine. Nach dem ersten Selbstmordversuch hatte er ihren gesamten Vorrat an Barbituraten in eine Schreibtischschublade im Schlafzimmer gesteckt, zu der nur er einen Schlüssel besaß. Er ging die Treppe hinauf, ohne zu merken, daß seine Frau dicht hinter ihm war. Der dicke Teppich hatte ihre Schritte gedämpft. Als er die Schublade aufschloß, sah er plötzlich ihre Hand, die nach dem Röhrchen Nembutal schnappte. Sie stürzte ins Bad. Er riß die Tür auf, bevor sie sich einschließen konnte, zwang sie, die Faust zu öffnen, schüttete die Tabletten ins Klosett und spülte nach. Sie wurde hysterisch, schrie: Geh aus meinem Bad, laß mich allein, und wollte ihm das Gesicht zerkratzen. Er wich zurück und hielt sie auf Armeslänge fern. In dem Moment, als er aus der Tür ging, schlug sie sie zu. Da er annahm, daß sie sich eingeschlossen hatte, überlegte er, ob er die Tür von einem Schlosser aufbrechen lassen sollte, wollte aber weder die Tür beschädigen noch die Lage verschlimmern. Am Ende legte er sich aufs Bett, um abzuwarten, bis sie sich wieder beruhigt hätte. Natürlich schlief er ein. Als er wieder wach wurde, sah er, daß über eine Stunde verstrichen war. Das Haus war vollkommen still. Er drehte versuchsweise den Griff der Badezimmertür.

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