Ehrensachen
meinesgleichen besinnen, statt mit dir und Archie zusammenzustecken und mit wer weiß für welchen High-Society-Nichtjuden noch. Zum Beispiel gebe es sehr ordentliche Gottesdienste in Boston, zu denen ich an den Freitagabenden gehen könnte. Einer der Großkunden meines Vaters hat einen Sohn an der Tufts University, der hinkommt. Triff dich mit ihm, bleib zum Essen und lerne nette jüdische Mädchen kennen. Ich sage meinen Eltern, daß ich noch nie zum Freitagsgottesdienst gegangen bin und daß ich nicht einsehe, warum ich jetzt in Boston damit anfangen soll. Du mußt wissen, daß mein Vater anGott glaubt, halte ich für ausgeschlossen. Andererseits möchte er wegen seines schwachen Herzens nicht sagen, daß er nicht glaubt, und er will es nicht dem Zufall überlassen, was passiert, wenn er tot ist. Außerdem ist er wie meine Mutter zu hundert Prozent konventionell. Einige Kunden meines Vaters gehen in eine Synagoge in unserer Nachbarschaft. Also geht er auch, an den hohen jüdischen Feiertagen, und an Jom Kippur fasten er und meine Mutter. Genauer gesagt, sie machen sich gegenseitig vor, sie würden fasten. Ich mußte meinen Vater in die Synagoge begleiten. Diese Ausflüge waren jedesmal eine Demütigung. Ich war nicht dort, weil ich gläubig wäre, sondern weil man mich hingezerrt hatte. Das würde mir nicht soviel ausmachen, wenn meine Eltern gläubig wären. Aber meine Mutter, die das größte Theater macht, ist nicht religiös, es sei denn, man läßt ihren Mythos von unserem Leben vor dem Krieg, als wir alle gemeinsam noch gute Juden waren, als Religion gelten. Ich kann mich nicht erinnern, daß wir in Krakau gute Juden gewesen wären. Vielleicht hat der Krieg meine Erinnerungen verdrängt. Es spielt keine Rolle: Ich sage meinen Eltern immer wieder, wenn sie gewollt hätten, daß ich mich an jüdische Glaubensregeln halte, dann hätten sie selbst gläubig sein, die Regeln befolgen und mir dieses wunderbare jüdische Zuhause verschaffen müssen, von dem meine Mutter ständig redet. Sie sind es nicht und sie haben es nicht getan, also könnte ich nur zum Schein ein Ritual zelebrieren, an das ich nicht glaube. Das überlasse ich dem Großinquisitor.
Schon wieder die Brüder Karamasow , und diesmal prustete ich los.
Na gut, sagte er, was ich eigentlich meine und was ich ihnen erzähle, wenn ich wirklich in Rage bin, ist folgendes: Ich kann mich nicht auf meinesgleichen besinnen, weil ich nicht weiß, was das heißen soll. Vielleicht gibt es solcheLeute gar nicht. Ich weiß überhaupt nicht, ob ich bin wie irgendwer sonst. Ich werde nicht so tun, als ob.
Flüchtig schoß mir der Gedanke durch den Kopf, er versuche anzudeuten, daß er womöglich schwul sei. Meiner Meinung nach war er es nicht – nicht nur, weil er Mädchen attraktiv fand und das auch deutlich zeigte. Ich hielt ihn einfach nicht für schwul. Gleichzeitig fiel mir wieder einmal auf, daß er mir sehr ähnlich war, mit dem einen Unterschied, daß seine Probleme offensichtlicher waren als meine und daß er sie meistens auf seine jüdische Herkunft schieben konnte.
Und wie willst du es herausfinden? Was willst du unternehmen? fragte ich.
Nichts, sagte er. Alles. Ich werde mich neu schaffen nach meinem Bild von mir.
Wie dieses Bild aussah und wie es zu Polen paßte und zu den Narben, die vom Krieg zurückgeblieben waren, das blieb ein Geheimnis. Mit meinen Versuchen, es aus Neugier oder Mitgefühl auszuforschen, kam ich nicht weit. Ein gutes Beispiel dafür war eine Unterhaltung am Tag davor, als ich mir ein Herz gefaßt und ihn gebeten hatte, zu erzählen, wie er und seine Eltern den Krieg überlebt hatten. Er hatte mich angestarrt und leise gesagt: Eine freundliche Dame hat meine Mutter und mich versteckt. Ein freundlicher Mann hat meinen Vater versteckt.
IV
Henrys non serviam war kein Hindernis für eher konventionelle Verwandlungsversuche. Sein Hauptmentor und Komplize war Archie. Archies Widerwille gegen die Kleider, die der Schneider seiner Mutter in Panama City mit der heißen Nadel zusammengeheftet hatte, hielt unvermindert an, genauso wie seine Überzeugung, darin sehe er aus »wie Don Ramón«. Fehlt nur noch ein fadendünnes Schnurrbärtchen, sagte er. Eine Lösung für Archies und Henrys Probleme mit der Eleganz zeichnete sich ab, als Archie Keezer’s entdeckte, ein Etablissement in Cambridge mit solider Universitätstradition, angesiedelt im Bürger-und-Studenten-Niemandsland zwischen Prescott Street und Central Square. Dort konnte
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