Ehrensachen
küßte sie. Weil wir beide gleich viel falsch gemacht hatten.
Was für eine Vergeudung, sagte ich.
Natürlich, antwortete sie, wenn ich anders gewesen wäre, weniger kapriziös, weniger nihilistisch, wenn ich nicht diese anderen Männer gebraucht – oder jedenfalls gewollt – hätte. Aber wenn ich anders gewesen wäre, hätte ich ihn dann so gefesselt? Bis er nicht mehr ohne mich auskommen konnte? Wir hätten uns zusammentun sollen, als er noch in der Law School war.
Das wäre das Beste gewesen, sagte ich.
Sie schüttelte den Kopf und sagte: Was für ein Spießer du bist. Na gut, ich habe ihn nicht geheiratet, aber ich habe ihm auf andere Weise genützt, und ich meine nicht nur den Sex. Obwohl wir es auch miteinander trieben, während ich andere Männer hatte, und als ich mit Jean verheiratet war, nicht nur weil es mir Spaß machte, sondern weil ich wußte: Von allen Dingen, die er haben wollte, war dies das einzige, das ich ihm geben konnte.
Margot, fragte ich plötzlich, weil ich glaubte, sie verstanden zu haben: Hast du ihm gesagt, wie er die Stelle bei Wiggins bekommen hat, oder hat er es selbst herausgefunden?
Das weißt du auch?
Ich nickte.
Hat er es dir erzählt?
Oh, nein, sagte ich. Ich ahnte etwas, weil du beim Mittagessen eine Andeutung gemacht hattest. Ich war mir nicht sicher, ob du dich ungewollt verraten hast oder ob du versuchtest, mir einen Hinweis zu geben.
Ungewollt, sagte sie, nicht absichtlich, das war eine Sache zwischen dem Mann und mir, und ich habe Henry nie etwas davon gesagt. Klar, ich habe ihn mit seinem großen Schutzpatron und Mentor gehänselt, weil er ständig von den wunderbaren Dingen vorschwärmte, die Jim gesagt und getan hatte. Vielleicht habe ich übertrieben. Oder vielleicht hat sich der arme Jim irgendwann in diesen endlosen gemeinsamen Arbeitsstunden verplappert, obwohl ich mich frage, ob das möglich ist, Jim war so vorsichtig, er hielt alles säuberlich getrennt, jedes Ding an seinem Platz. Aber eines Tages merkte ich, daß Henry es wußte oder ahnte. Er sagte ungefähr, er werde nie vergessen, daß er in meiner Schuld stehe. Ich spürte, daß dieses Wissen an ihm nagte, aber ich konnte wirklich nichts daran ändern. Wir haben nie darüber gesprochen.
Ich nickte.
Sie entkorkte noch eine halbe Flasche Wein und schenkte mir ein Glas ein. Wir tranken schweigend, bis ich wieder auf den Anlaß meines Besuchs zurückkam und sie bat, mir zu erklären, wie ich ihn erreichen könne. Sie versicherte mir, daß sie die Wahrheit gesagt habe und seine Adresse nicht kenne, aber am Ende gab sie mir alles, was ich brauchte. Henry White hatte sich in Henri Leblanc verwandelt und wohnte nicht weit von Avignon.
Wie hast du das herausgefunden? fragte ich.
Sie lachte und sagte: In diesen Zeiten zwischen fünf und sieben gibt es auch Momente, in denen man sich ausruht und Nonsens redet über das, was nicht ist und sein könnte.
Eine neue Minitel-Suche ergab Henrys Telefonnummer und Adresse in einem Dorf südwestlich von Avignon. Ich hielt es nicht für sinnvoll, ihn im voraus anzurufen. Vielmehr flog ich nach Paris, ruhte mich ein paar Tage aus und nahm den Hochgeschwindigkeitszug nach Avignon. Um fünf Uhr nachmittags war ich am Bahnhof. Gegenüber lag ein Café, von dort aus telefonierte ich. Er meldete sich auf französisch, aber seine Stimme war unverkennbar. Henry, sagte ich, ich brauche eine knappe halbe Stunde bis zu dir. Du hast gerade genug Zeit, Eis aus der Kühlung zu holen. Nach der Bahnfahrt hätte ich gern einen Pastis.
Ein langes Zögern. Dann sagte er auf englisch: Ich hatte dich gebeten, dies nicht zu tun.
Und wenn schon, antwortete ich. Das ist so lange her. Jetzt bin ich da, und ich möchte dich sehen.
Wieder zögerte er, sagte dann, also gut, und gab mir die Wegbeschreibung.
Das Taxi setzte mich vor einem großen Bastide ab. Er kam an die Tür, und ich sah erleichtert, daß er sich nicht sehr verändert hatte, nur sein Haar war nicht mehr rot, sondern zu einem merkwürdigen Blond verblaßt. Wir gaben uns die Hand, aber dann schien ihm die Förmlichkeit der Begrüßung aufzufallen, und er breitete die Arme aus und zog mich an sich.
Ich bin froh, daß du da bist, du alter Gauner, sagte er. Komm herein. Wir gehen auf die Terrasse hinter dem Haus. Mireille kommt bald. Ich setze dich lieber ins Bild, damit du nicht irgendwas Dummes sagst. Aber zuerst kümmere ich mich um deinen Pastis.
Er ging ins Haus und kam nach ein paar Minuten wieder,gefolgt von einer
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