Ehrenwort
gelangweilter Schüler in sein Matheheft gezeichnet hatte. Warum sollte er eigentlich nicht Tätowierer werden? Der Falke auf Jennys Rücken war so dürftig und plump geraten, dass er ihn dreimal besser hingekriegt hätte. Wahrscheinlich verdiente man damit mehr als ein Altenpfleger.
Wie dachte Jenny wohl über ihn? Fand sie es in Ordnung, dass ihm seine Eltern alles bezahlten und er anscheinend genug Taschengeld bekam, um einem Horst Müller das Maul zu stopfen? Max hatte zugegeben, dass Falko vier Hunderter im Monat von ihm verlangte - betrachtete es Jenny als normal, dass er diese Summe problemlos hinblättern konnte? Hielt sie ihn für faul und feige? Immerhin kümmerte er sich ja um seinen Großvater, und niemand wusste besser als Jenny, wie aufreibend Pflege sein konnte.
Unterdessen äußerte der Alte immer neue Wünsche. Nun sollte ihm Max das große Ölbild aus dem Dossenheimer Haus herschaffen und einen grüngestrichenen Gartenstuhl für den Balkon. Es war überhaupt erstaunlich, welchen Einfluss der Frühling auf seinen Großvater hatte: Er wurde zunehmend mobiler und hatte heute sogar auf dem Balkon eine halbe Zigarre im Stehen geraucht. Seit er sich häufiger von der Stelle bewegte, waren seine Hände und Füße besser durchblutet und angenehm warm. Neu war auch, dass er einen Tulpenstrauß orderte, und zwar nicht einfach weiße oder gelbe Blumen, sondern korallenrote. Ein weiteres Ansinnen des Alten war der Kauf eines teuren Rasierwassers, das man in der Fernsehwerbung als besonders männlich angepriesen hatte.
Es roch im Zimmer des Großvaters nicht mehr nach nassem Hund, sondern nach Parfüm, würzigem Tabak und einem feinen Blütenduft, der aus den umliegenden Gärten durch die offene Balkontür zog. Im Radio hörte der Opa jetzt nicht mehr nur die Nachrichten, sondern suchte auch nach Liedern.
»Das ist aus dem Freischütz«., sagte er. »Kennst du diese Arie?«
Max nickte freundlich, obwohl er keine Ahnung hatte. »Italienisch, nicht wahr?«, fragte er, denn damit lag man meistens richtig. Der Alte schüttelte bekümmert den Kopf.
»Was lernt ihr heute eigentlich in der Schule? Kein Latein, keine Grammatik, keine deutsche Oper aus der Romantik. Junge, du hast reichlich Bildungslücken. Vita brevis, ars longa! Das Leben ist kurz, aber die Kunst ist langlebig...«
Was redet er da, dachte Max, neunzig Jahre sind doch nicht kurz.
16
Der Mai war in diesem Jahr strahlend schön. Auf die Krücken gestützt, stand der Alte auf dem Balkon, atmete die Luft ein, die sich zwischen Kälte und Wärme noch nicht ganz entschieden hatte, und überlegte, ob er sich das Rauchen abgewöhnen sollte.
Als er sich vor gut drei Monaten das Bein gebrochen hatte, war er überzeugt davon, dass eine solche Katastrophe das Ende für ihn bedeutete. Aber wider Erwarten hatte er die OP überstanden und schließlich auch die schrecklichen Tage im Krankenhaus, an die er sich nur vage erinnerte. Mit fast neunzig Jahren kann nichts mehr ausheilen, es geht jetzt zügig bergab, hatte er gedacht. War ein Wunder geschehen? Er beschloss, das Schicksal nicht herauszufordern und nur noch eine halbe Zigarre pro Tag zu rauchen, auch um Max und Jenny ein Vorbild zu sein.
Eigentlich war er sehr stolz darauf, dass er sich dank seiner Gehhilfen im gesamten oberen Stockwerk fortbewegen konnte. Um den Hals trug er meistens einen schwarzen Stoffbeutel mit dem Logo von Petras Bücherstube, worin er Brille, goldbraune Kubazigarren samt Cutter, Streichhölzer aus Zedernholz, Taschentücher und andere Utensilien aufbewahrte. Bedauerlich war nur, dass er auf die voluminösen Windelhosen noch nicht ganz verzichten konnte, obwohl er beharrlich versuchte, ohne Begleitung auf die Toilette zu gehen. In diesem Fall kam der Rollator zum Einsatz, und gelegentlich klappte es tatsächlich. Zum Glück hatten seine neuen Hosen weder Knöpfe noch Reißverschlüsse, so dass er sie ohne umständliche Fummelei herunterziehen konnte. Überhaupt erwiesen sich diese Fleece-Anzüge, die er anfangs verachtet hatte, als warm, praktisch und wohl auch pflegeleicht, denn sie müssten häufig gewaschen werden. Fast bei jedem Essen kleckerte er, auch wenn man ihm eine Serviette in den Ausschnitt steckte. Gott sei Dank durfte er jetzt nachts wieder seine alten Schlafanzüge tragen; den pflaumenblauen hatte ihm Ilse zum siebzigsten Geburtstag geschenkt.
Gestern hatte Elena ihre kleine Enkelin dabei, denn ihre Tochter brachte gerade ihr zweites Kind zur Welt. Die Wehen
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