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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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seine Abteilung über 100.000 westdeutsche Anschlüsse unter Zielkontrolle. Kurz vor Ende der DDR passierte Rupp das Verrückteste in seiner gesamten Laufbahn. Als er zufällig einen Anruf annahm, der in seiner Abteilung ankam, hatte er den Dicken höchst persönlich in der Leitung gehabt: Kohl wollte sich zu Egon Krenz durchstellen lassen, um ihm zu seiner Wahl zum neuen SED-Generalsekretär zu gratulieren.
     
    In der Zwischenzeit hat Rösener eine Art Sockelring mit Sockelfassung in den Deckenstrahler eingeschraubt, damit die Glühbirnen danach alle auf gleicher Höhe mit den Metallringen abschließen. Zuerst aber befestigt er eine Kontaktplatte mit vier Dioden und einer Reihenschaltung von Kondensator, Spule und Widerstand. Wenn die Journalistin ihr Deckenlicht einschaltet, wird damit der Akku der Wanze mit dem winzigen Mikrofon aufgeladen. Rösener verklebt sie akkurat am Boden des Metallrings und dreht die Glühbirne wieder ein. Danach verbindet er zwei Kondensatoren als Antennen mit den Metallschienen des Deckenstrahlers.
    Nicht schlecht, keine 20 Minuten das Ganze!
    Rösener schaltet kurz den Deckenstrahler an.
    Dürfte alles klargehen.
    Sorgfältig stellt der Überwachungsexperte den Stuhl an seinen alten Platz zurück. Bloß keinen dämlichen Flüchtigkeitsfehler zum Schluss!
    Mit höchster Konzentration öffnet er die Wohnungstür einen Spalt weit und lugt hinaus. Draußen herrscht Stille. Es hört sich nicht so an, als würde gleich irgendwo unverhofft eine Wohnungstür aufgehen. Rösener hängt sich den Rucksack über und tritt mit einer raschen Bewegung hinaus. Den Sputnik ins Schloss gesteckt, eine kurze Drehung, er war niemals hier.
    Während er die Treppen hinabsteigt, klingen die Prahlereien von Hauptmann Rupp in seinen Ohren nach.
    »Wir hatten Zugriff auf 75 bis 100 Telefone im Kanzleramt. Helmut war durchschnittlich alle 14 Tage im Originalton dabei. Über 19.000 Protokollseiten im Laufe der Jahre. Topsecret-Befehle verlangten von uns Sofort-, Einzel- und Ergänzungsinformationen. Das Plansoll waren 480 Berichte und Analysen, dazu 250 Dossiers.«
    Rösener kann immer noch nicht glauben, was damals im Osten alles zusammengetragen worden war. Kein Wunder, dass alle den Überblick verloren hatten. Dagegen ist sein Job für diesen Libo-Konzern ein Kinderspiel.
    Im Verhältnis zum Aufwand ist die Kohle, die dabei rausspringt, mehr als leicht verdient!
    Rösener tritt auf die Straße, atmet erleichtert durch. Da biegt eine mittelgroße Frau in einer roten Lederjacke um die nächste Straßenecke und marschiert direkt auf ihn zu. Er dreht sich spontan zur Seite. Sie eilt an ihm vorbei und verschwindet in dem Hauseingang, aus dem er eben gekommen ist. Rösener ist es plötzlich sehr heiß.
    Scheiße, Scheiße, denkt er und hat das ovale Gesicht mit dem struppigen Kurzhaarschnitt vor Augen.
    Von wegen Kleinigkeit, das war meine Zielperson. Kommt einfach mitten am Tag nach Haus. Um Haaresbreite und … so was solltest du nicht im Alleingang machen, Rösener, sonst kannst du gleich russisches Roulette spielen.
     
    *
     
    Jan Swensen bleibt kurz verwundert an der Gartenpforte stehen, als er den stockenden Verkehr auf der Dorfstraße sieht. Sein kurzer Fußweg zur Witzworter Kirche führt ihn an einer Schlange parkender Fahrzeuge vorbei, die auf dem Grünstreifen am Rand der Straße stehen und zwischen denen nur vereinzelt noch eine Lücke frei ist. So viel Andrang für den Gedenkgottesdienst der drei Mordopfer hat der Kriminalist nicht erwartet. Der kleine Parkplatz vor der Kirche ist bis auf den letzten Platz belegt und mehrere Streifenpolizisten haben alle Hände voll zu tun, die ankommenden Autos auf Parkmöglichkeiten am Dorfrand zu verweisen. Vom Bürgersteig aus bemerkt der Hauptkommissar Pastor Claßen, der neben der offenen Kirchentür steht. Zu seiner Rechten die hagere Gestalt des Organisten Ludwig Thiel. Hinter der Ligusterhecke am hölzernen Glockenturm, der separat neben dem Backsteingebäude errichtet wurde, haben sich bereits einige Kollegen der Husumer Kripo versammelt. Swensen erkennt Polizeirat Püchel und SOKO-Chef Colditz ungewohnt in schwarzen Anzügen mit Krawatte, bei ihnen steht die Profilerin Klein. Die Oberkommissare Mielke und Jacobsen reden etwas abseits miteinander. Ein gleichmäßiger Besucherstrom strebt durch die offene Pforte den Plattenweg hinauf, links am Gebäude entlang, hinüber zum Haupteingang. Der Hauptkommissar reiht sich hinter einem älteren Paar ein, um durch den

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