Eidernebel
Schaffe einen Abstand und kehre zu deinem Atem zurück«, spricht die Stimme des Meisters.
Denken!
Einatmen.
Ausatmen, ssshuuu.
»Die Praxis des Meditierens erfordert höchste Genauigkeit«, hatte ihn Rhinto Rinpoche im Schweizer Tempel gelehrt. »Du musst sie auf den Punkt bringen können, Geist und Körper sollen beim Auf-dem-Fleck-Sitzen zur Übereinstimmung finden. Wenn du dir in jedem Moment die Wichtigkeit dieser Haltung vor Augen führst, dann ist das harte Arbeit. Eine schlechte Haltung ist vergleichbar mit einer dürren Märe, die du vor einen schweren Wagen spannen willst – du wirst keinen Meter vorankommen. Sind Geist und Körper aus dem Takt, sackt der Körper in sich zusammen und der Geist schwebt davon. Diese Methode lehrt dich, einfach zu sein, dich nicht für etwas Besonderes zu halten. Du sitzt mit dem blanken Hintern auf der Erde und die Erde lässt dich auf ihr sitzen, ohne unter dir nachzugeben.«
Einatmen.
Ausatmen, ssshuuu.
Sein Körper öffnet sich zu einem weiten Raum. Die Gedanken ziehen wie Wolken hindurch, aufgetürmt zu steten Gebirgen der Bedeutung, die im nächsten Moment zerfasern, in Streifen gezogen werden, Federbüschen gleich, um dann erneut zu lockender Wichtigkeit anzuschwellen. Ein ständiges Auf und Ab. Es ist eine endlose Reise, die in eine endlose Ferne führt. Swensen lässt alles sein, wie es ist.
Einatmen.
Ausatmen, ssshuuu.
Einatmen.
Ausatmen.
Aus dem weiten Raum kehrt das Gefühl für den Körper zurück. Swensen öffnet die Augen. Es ist bereits zehn Minuten über die übliche halbe Stunde. Der Raum um ihn ist wieder real. Als der Hauptkommissar sich vom Sitzkissen erhebt, schrickt er zusammen. Ein kleiner Schatten saust haarscharf an seinem Kopf vorbei. Er kreist einmal durch sein Zimmer und fliegt zum offenen Fenster hinaus, das er vor der Meditationssitzung weit aufgesperrt hatte. Während er sich noch fragt, was das gerade war, ist der Schatten schon wieder im Raum, steht einen Moment im Rüttelflug auf der Stelle, um erneut mit einem wendigen Manöver mehrere Kreise um seinen Kopf zu ziehen und wieder durchs Fenster zu verschwinden.
Eine Fledermaus, kommt Swensen die Erkenntnis, tritt ans Fenster und schaut hinaus. Im Licht der Hausbeleuchtung sieht er mindestens drei Fledermausschatten ums Haus schnellen.
In einem Tierfilm bei arte hatte er den virtuosen Flug der Tiere einmal in Zeitlupe gesehen, wie sie mit den Krallenfingern die Wölbung ihrer Flugmembran steuern, ihre Flügel in die Senkrechte drehen, sie nach oben schnalzen und dann flach nach unten schlagen können. So gleichen Fledermäuse das Fehlen von Federn aus.
Der Kriminalist fühlt sich plötzlich eins mit Natur und Welt, steigt gedankenversunken die Treppe in den Flur hinab. Er hat bereits die Klinke der Haustür in der Hand, da kommt Anna gerade mit einer dampfenden Tasse Kaffee aus der Küche.
»Du gehst noch mal?«, fragt sie verwundert. »Du bist doch vorhin erst gekommen?«
»So ist es manchmal eben. Ich hab Mielke versprochen die Spätschicht bei einer Überwachung zu übernehmen. Es kann also länger dauern, du brauchst nicht auf mich zu warten.«
Anna eilt auf ihn zu, gibt ihm einen Kuss und sagt: »Geh kein Risiko ein, bitte.«
»Ich mach das nicht das erste Mal, Anna«, beruhigt Swensen.
Minuten später steuert der Hauptkommissar seinen alten Polo in die Dunkelheit der Nacht. Es sind nur noch wenige Tage bis zum Vollmond, aber die Leuchtkugel hat sich heute hinter dunklen Wolken verschanzt. Er passiert die Windmühle Catarina, die, einem Scherenschnitt gleich, vor dem diffusen Lichtstreifen am Horizont steht. Seit der Frühbesprechung fühlt der Hauptkommissar sich zermürbt. Das ewige Gerangel zwischen Silvia Haman und Stephan Mielke hat eine neue Dimension angenommen und beeinträchtigt mittlerweile die Ermittlungen. Während sich die Hauptkommissarin ein stetes Duell mit der Profilerin liefert, springt der Oberkommissar dieser bei jeder Gelegenheit zur Seite. Swensen hat keine Idee, wie er die Unstimmigkeiten im Team ansprechen könnte. Geschürt wurden diese zudem durch den Misserfolg bei der Aktion mit dem Gedenkgottesdienst. Die Auswertung des Überwachungsmaterials hatte zwar viele Personenüberprüfungen und reichlich Überstunden ergeben, doch am Schluss mussten die Beamten der SOKO davon ausgehen, dass der Täter sich nicht gezeigt hatte. Wenn der geplante Speicheltest jetzt auch nicht den Durchbruch bringen würde, wäre das Desaster
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