Eidernebel
kommen wir zu einer mitfühlenden Haltung.«
Die Kollegen sind verschwunden. Der Glockenlärm hat sie vor den kleinen Supermarkt auf die andere Straßenseite getrieben. Swensen entdeckt Stephan Mielke, Rudolf Jacobsen und Helene Klein hinter einer Skulptur mit dem bezeichnenden Namen ›Das Ding‹, die aus unzähligen gebogenen Röhren besteht. Swensen erreicht die Gruppe, als Silvia Haman um die Hausecke biegt. Beide geraten mitten in eine hitzige Debatte, in der Rudolf Jacobsen gerade seinem Unglauben freien Lauf lässt.
»Ehrlich gesagt, Helene, egal was du uns prophezeist, ich glaube nicht daran, dass der Mörder hier auftaucht. So blöd kann ein Mensch gar nicht sein.«
»So klar denkt ein Täter aber nicht, Rudolf«, versichert ihm die Profilerin. »Das Motivationssystem eines Gewalttäters wird meist unbewusst gesteuert. Er kehrt an den Ort eines Verbrechens zurück, weil er im Unterbewusstsein gefasst werden möchte. Während es den nicht planenden Täter aus Schuldgefühlen und Reue zum Tatort zieht, kehrt der planende Täter meistens aus Gründen weiterer Machtausübung dorthin zurück.«
»Und unser Täter ist ein planendes Exemplar, wenn ich dich bisher richtig verstanden habe?«, mischt Silvia Haman sich ein. »Aber ob planend oder nicht planend, für mich bleibt die Frage nach dem Warum im Vordergrund. Zum Beispiel passt ein planender Täter, wie dieser Robert Steinhäuser, der letztes Jahr an seiner Schule in Erfurt 17 Menschen getötet hat, überhaupt nicht in deine wunderschönen Analysen. Der hat sich einfach zu viel Ballerspiele im Computer reingezogen und wollte das auch mal real ausprobieren.«
»Nun, es gibt zwar wissenschaftliche Untersuchungen, die einen sehr wahrscheinlichen Zusammenhang von Gewaltdarstellungen in den Medien und der Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen und Erwachsenen annehmen. Das gilt aber eben nicht per se für alle Konsumenten.«
»Es gibt in Schweden eine Untersuchung, dass bereits 40 Prozent der Kinder zwischen sechs und zehn Jahren davon überzeugt sind, dass Menschen ausschließlich durch Mord und Totschlag sterben«, kontert Silvia Haman. »Den Unterschied zwischen einem Mord im Krimi und einer tatsächlichen Tötung in den Nachrichten verstehen sie nur noch, wenn Erwachsene es ihnen erklären.«
»Das ist zwar erschreckend, aber eine Imitation von Gewalt, sagen zumindest Medienpsychologen, ist grundsätzlich nur dort zu erwarten, wo Menschen vorher selber Gewalterfahrungen gehabt und dadurch pathologische Neigungen entwickelt haben, beispielsweise wenn sie bereits von Gewalt- oder Tötungsfantasien beherrscht werden. Der letzte Kick ist dann nur noch die Nachahmung bestimmter Verhaltensweisen.«
»Im normalen Fernsehprogramm gibt es täglich 70 Morde zu sehen«, bleibt Silvia unbeirrt bei ihrer Position.
»Es gibt auch andere Faktoren, das Alter, zum Beispiel, und das Geschlecht, private oder berufliche Konflikte, Aggressionsneigung, Persönlichkeitsstörungen!«, unterbricht Helene Klein.
»In einer Fernsehwoche werden insgesamt über 2.500 Gewalttaten gezeigt«, fährt Silvia stur fort. »Aneinandergereiht ergibt das einen 25-stündigen Nonstop-Gewalt-Clip.«
»Hallo, Silvia! Ist ja gut«, unterbricht Stephan Mielke barsch, »du bist sowieso gegen alles, was von Helene vorgetragen wird.«
»Und du findest alles richtig, was man dir erzählt.«
»Leute, Leute«, unterbindet Swensen den aufkeimenden Streit. »Während wir hier über richtige und falsche Täterprofile lamentieren, sitzt der reale Mörder vielleicht unbemerkt in die Kirche. Gehen wir auf unsere Posten und sehen uns alle Personen, die gleich rausströmen, noch mal genaustens an.«
Wortlos, nur mit einem schnellen Blickkontakt, fordert Silvia Haman Rudolf Jacobsen auf, sich mit ihr an der hinteren Kirchenpforte aufzustellen. Swensen und Mielke schlendern zur vorderen Pforte.
»Ist dir schon jemand aufgefallen?«, fragt der Oberkommissar auf dem Weg dorthin.
»Nicht wirklich«, antwortet Swensen. »aber wir sehen wahrscheinlich den Wald vor lauter Bäumen nicht. Immerhin sind etliche Personen anwesend, die wir schon befragt haben. Mir ist zumindest der Exfreund unserer Ermordeten aufgefallen.«
»Der hatte doch ein Alibi, oder?«
»Schon, aber das war nicht gerade hieb- und stichfest.«
*
Einatmen.
Ich bin gegenwärtig.
Ausatmen, ssshuuu.
Ich löse mich auf und verströme mich.
Wenigstens beim Meditieren solltest du das Handy ausschalten.
»Benenne deine Gedanken.
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