Eidernebel
muss los, will mit Stephan heute noch die letzten Speicheltest-Verweigerer von der Liste abarbeiten.«
Während Silvia Haman in Stephan Mielkes Büro verschwindet, hat Swensen die Küchenzeile erreicht. Nach zehn Minuten verlässt er sie mit einer Kanne grünem Tee, stellt sie auf seinen Schreibtisch und holt sich die Akten aus Silvias Raum. Wenig später hat er seine Umgebung und das, was er eigentlich machen wollte, vergessen. Er blättert durch die Akten, bis er das Verhör des Jungen gefunden hat und liest es in einem Rutsch durch.
Frage : War deine Mama denn mit da oben, wo dein Papa war?
Antwort : Ja.
Frage : Aber deine Mama sagt, dass es gar nicht stimmt. Du darfst hier nicht lügen, verstehst du?
Antwort : Ich lüge nicht, das Gebot steht doch in Papas Buch.
Frage : Warum sagt die Mama denn etwas anderes?
Antwort : Mama ist böse, wie der Teufel in Papas Buch. Sie haut mich, wenn ich sage, dass sie Papa geschubst hat.
Frage : Mama sagt, dass du dir gerne Sachen ausdenkst.
Antwort : Ja, solche Geschichten wie in Papas Buch. Ich hab immer zugehört, wenn Papa daraus vorliest. Satan ist das Ungeheuer, steht in Papas Buch, Gott hat ihn aus dem Himmel geworfen. Mama hat das wie der Herrgott gemacht und Papa aus dem Himmel geworfen.
Swensen drängt sich beim Lesen die Geschichte der Psyche auf, in der die Schwestern den Gott Amor als Ungeheuer verteufelt haben. Auch der kleine Junge, so scheint es dem Hauptkommissar, muss nach den Ereignissen in der Oldensworter Kirche auf Gott nicht gerade gut zu sprechen gewesen sein.
›Und hämmert auch der Hölle Wut – voll
Gotteshass und Frevelmut – an unsrer Kirche
Quadermark,‹
Das Lied musste Swensen in seiner Konfirmationszeit auswendig lernen. Jetzt klingt die Melodie ihm plötzlich im Ohr. Gotteshass, schießt es durch seinen Kopf, steckt dort vielleicht der Schlüssel zu unseren Fällen? Das Kind ist heute ein Mann von 29 Jahren und passt daher bestens zu der Altersgruppe, die Helene Klein für die Täterschaft ins Auge gefasst hat.
Der Hauptkommissar nimmt die Akten, marschiert über den Flur und legt sie der Kollegin auf den Schreibtisch zurück. Als er wieder auf den Flur hinaustritt, wird die Tür von Püchels Büro aufgerissen und der Polizeirat stürzt mit bleichem Gesicht auf ihn zu.
»Jetzt … es ist wieder passiert … Gottver… Scheiße!«, stammelt er und atmet mit einem Geräusch aus. Der Geruch von kaltem Rauch schlägt dem Hauptkommissar entgegen.
»Heinz, jetzt beruhig dich erst mal.«
»Beruhigen? Der nächste Mord ist gemeldet worden! Scheiße! Verdammte Scheiße! Was machen wir jetzt nur?«
Der Polizeirat steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen, zündet sie an und bläst einen Mundvoll Rauch aus. Swensen wedelt ihn vor seinem Gesicht weg.
»Wir machen, was wir immer machen, Heinz. Ich informiere die Kollegen und wir sehen uns den Tatort an. Wo müssen wir hin?«
»St. Peter Ording. Die kleine Kirche vor dem Deich.«
Mitte November 2003
Du bist nicht meine Mutter, Mutter! Trotzdem kam aus deinem Muttermund immer nur Schuld und Hass. Du wolltest den Sohn in einer ewigen Ahnungslosigkeit einkerkern, damit man ihn vergessen kann und er dort mit seinem Wissen elendig verrottet. Du hast ihm jeden Tag in eine Nacht verdreht. Dein Gesicht war mit makelloser Unschuld maskiert, damit der Sohn sich nie mehr aus seinem Nachttunnel heraustraut. Du hast ihn gezwungen in deine Hölle hineinzukriechen, dass er deine inneren Ritzen und Nischen fühlen konnte, sie sich aber nur ihm offenbarten und er sie niemanden zeigen könnte. Weil der Sohn in deiner Nacht hausen musste, konntest du den hellen Tag ausfüllen und allen deine Lügen erzählen. Ab da war er nur noch ein Schatten deiner grausamen Tat. Du falsches Muttermaul, deine enigmatische Sprache, die du extra für den Sohn verklausuliert hast, dass er sie unmöglich verstehen konnte, konnte behaupten was sie wollte. Und die Welt glaubte dir, dir glaubte selbst die Polizei. Der Sohn trug deine Schuld auf seinen Schultern durch das leere Haus Gottes. Deine dunkle Tat erstickte ihn, der Sohn wurde zu deinem Unbewussten und erkrankte an unheilbarer Sprachlosigkeit.
Mutter, du Ungeheuer, du verbrauchtest alle seine Worte, alle Sätze. Der Sohn fühlte nichts mehr, hatte all seine Worte gegessen, wie trockenen Sand geschluckt, täglich Silbe für Silbe. Er wurde aber niemals satt davon, musste täglich seine Sprache neu erlernen, die er aber nicht sprechen, sondern
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