Eidernebel
an Frauen hassen.‹ Er konnte mir aber nicht wirklich sagen, was genau das ist. Seine sadistischen Taten waren eruptiv ausgeführt worden. Köhler hatte seine Aggressionen heruntergeschluckt, aber nicht verdaut. Er wollte das gestörte Verhältnis zu seiner Großmutter auflösen, was ihm damit aber nicht gelingen konnte. Wenn er nicht geschnappt worden wäre, hätte er aus seiner Sicht immer weiter morden müssen.«
Der Dienstwagen passiert Brösum. Swensen biegt nach Ording ab und der Außendeich kommt in Sicht. Wenig später parkt er den Polo vor der kleinen Kirche, die irreal aus dem Bodennebel herausragt. Aus dem bunten Glas der Bogenfenster dringt Licht. Die Kirchentür ist offen, und Swensen und die Profilerin treten leise ins Kirchenschiff. Im ersten Moment scheint es leer zu sein, doch dann entdeckt der Hauptkommissar den Organisten auf der Steinstufe sitzend vor dem geschnitzten Altar. Er scheint in Gedanken versunken. Auf seinem linken Oberschenkel liegt eine aufgeschlagene Notenmappe, in seinem Mund wippt ein Bleistift auf und ab.
»Herr Thiel«, spricht Swensen den Mann an, als Helene und er fast vor ihm stehen. Thiel zuckt zusammen, die Mappe fällt herunter und die losen Notenblätter verteilen sich über den Boden.
»Entschuldigen Sie, wir wollten Sie nicht erschrecken«, sagt Swensen und beginnt die Papiere aufzuheben. Hinter dem Notenschlüssel sind ovale Köpfe mit Fähnchen am Notenhals flüchtig unter, auf, zwischen und über die Striche gekritzelt.
»Lassen Sie das bitte«, faucht der Organist ärgerlich. »Sie bringen mir nur alles durcheinander.«
Swensen legt die Blätter auf den Boden zurück, während der Mann in Windeseile den Stapel wieder in den alten Zustand bringt.
»Weswegen ist denn die Polizei hier? Ist es etwa nicht in Ordnung, dass ich in der Kirche arbeite?«, fragt Thiel und mustert den Hauptkommissar und Helene Klein mit vorwurfvollem Gesicht.
»Nein, es ist alles in Ordnung«, beschwichtigt Swensen. »Das ist übrigens Helene Klein, eine unserer Ermittlungsexpertinnen.«
»Ich denke, ihre Ermittlungen in der Kirche sind bereits abgeschlossen?«
»Das sind sie ja auch«, bestätigt Swensen. »Wir sahen nur zufällig Licht, als wir vorbeifuhren und wollten sehen, was hier drinnen los ist.«
»Haben Sie denn gar kein ungutes Gefühl, in einer Kirche zu arbeiten, in der gerade ein Mord passiert ist?«, fragt Helene Klein.
»Ich versteh die Frage nicht ganz? Ich bin kein ängstlicher Mensch, wenn Sie das meinen, Frau Klein.«
»Darf ich fragen, was Sie hier machen, Herr Thiel?«, schaltet sich Swensen ein. »Die Kirche hat keine Orgel.«
»Ich komponiere!«
»In einer Kirche ohne Orgel? Das sollten Sie mir erklären!«
»Orgelmusik ergibt sich für mich nicht über den Weg der Improvisation. Ich brauche eine durchdachte musiktheoretische Grundlage. Sie basiert auf einem komplexen System musikalischer Modi. Es geht mir nicht nur um theologische Inhalte, sondern auch um die Beobachtung der Natur, besonders der Vogelwelt von Eiderstedt …«
»Das erklärt nicht, warum Sie hier in der Kirche sitzen«, unterbricht Swensen scharf.
»Haben Sie schon einmal etwas von Inspiration gehört, Herr Swensen? Diese kleine Kirche ist meine Muse, seitdem ich hier in St. Peter wohne. Ich versuche gerade aus der Inschrift auf dieser wunderschönen Kanzel ein Orgelstück zu komponieren: Herr tu meine Lippen auf, dass mein Mund deinen Ruhm verkündige. Wenn ich hier sitze, den gemalten Himmel Gottes über mir, dann atmet meine Seele, dann strömt Musik aus meinem Herzen!«
O süße Psyche, ich hätte dich an keinen Gott zurückgegeben, fallen Swensen die Worte von Theodor Storm ein. Er ist überzeugt, dass sie gehen sollten und macht es der Profilerin deutlich. Etwas in ihm ahnt, dass die Orgelmusik, von der er in dem Zeitungsartikel über Lisa Blau gelesen und die ihn hierher gelockt hat, eine falsche Fährte gewesen sein könnte. Der Bildhauer, der das Abbild der Psyche in der Storm-Novelle geschaffen hatte, wollte sich gegen einen Gott auflehnen. Ludwig Thiel dagegen will seinem Gott eine Verehrungshymne schreiben.
Swensen beschließt, bei der nächsten Gelegenheit die Journalistin Maria Teske anzurufen und mit ihr über Lisa Blau zu sprechen.
Dezember 2003
»Einmal Chili con Carne und ein Dithmarscher Weizen! Und Streichhölzer hätte ich gerne!«
Ohne ein Wort kritzelt die junge Frau in weißer Bluse und kurzem schwarzen Rock die Bestellung auf ihren Block, steckt
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