Eidernebel
unbewusst sogar, dass wir sie schnappen, damit sie endlich nicht mehr morden müssen.«
»Dein Wort in Gottes Ohr, Helene«, sagt Colditz und verzieht seinen breiten Mund zu einem bitteren Lächeln. »Okay, Leute! Ihr habt gehört, was die Profilerin gesagt hat. Höchste Konzentration, gerade jetzt, die kleinste Kleinigkeit kann der entscheidende Hinweis sein. Schluss mit dem unnötigen Gequatsche, an die Arbeit!«
Während Colditz mit federndem Gang aus dem Raum rauscht und das allgemeine Stühlerücken beginnt, greift Swensen seine Husumer Rundschau, die er schon seit mehreren Tagen morgens kauft, und trottet hinter den anderen auf den Flur hinaus. Er macht einen Abstecher in die Küchenzeile, um eine Kanne Pu-Erh-Tee mitzunehmen. Nachdem er das heiße Wasser in die Kanne gegossen hat und der Tee zieht, blättert er nebenbei die Zeitung durch.
Maria Teske hat sich seine Worte, kein Interview mit dem Ehemann des Opfers zu veröffentlichen, anscheinend zu Herzen genommen. Bisher ist jedenfalls kein Artikel erschienen.
Es hat also etwas genützt, ihr ins Gewissen zu reden, denkt der Hauptkommissar und entdeckt dabei eine weitere Folge der Serie ›Das Herz der Lisa B., – Eine Frau erzählt von ihrer Herztransplantation.‹
Unter der Überschrift des Artikels steht in dicken schwarzen Lettern:
›Der Mörder von Reimersbude erscheint ihr nachts im Traum!
Von Maria Teske
Viele Menschen werden sich noch an den schrecklichen Mord in Reimersbude erinnern. In dem bis heute ungelösten Kriminalfall gibt es eine mysteriöse Verbindung zum heutigen Leben der Lisa B. Das Herz der Frau, die in der Nähe des Schleusenhäuschens auf brutale Weise überfallen wurde, schlägt nach einer Transplantation jetzt in der Brust von Lisa B. Unter normalen Umständen hätte die Herzpatientin davon nie etwas erfahren, denn in Deutschland verbietet das Transplantationsgesetz, dass die Identität von Organspendern bekannt gegeben wird. Spender und Empfänger bleiben anonym. Doch Lisa B. ist eine außergewöhnliche Patientin. Ihr Geist kommunizierte mit ihrem Körper und ihr neues Herz antwortete. Es nahm sie mit auf eine Reise an die Grenze der menschlichen Vorstellungskraft.‹
Swensen überfliegt den Artikel flüchtig, bleibt aber unwillkürlich am letzten Abschnitt hängen. ›Lisa B.‹, liest er da, ›hatte sich nach der OP verändert, sie spürte, dass der innerste Kern ihres Wesens nicht mehr ihr ganz allein gehörte, dass sich in ihr etwas Eigenständiges, von ihr Abgetrenntes entwickelt hatte. Lisa B. konnte den Anblick von Gewalt und Brutalität im täglichen Fernsehen nicht mehr ertragen. Sie entwickelte eine seltsame Leidenschaft für Cola, ein Getränk, das sie vorher nicht leiden konnte. Sie liebte aus unerklärlichen Gründen plötzlich scharfes Essen. Ihr Wesen wurde unordentlicher, sie brachte ihre Wohnung nicht mehr jeden Tag in einen Tipptopp-Zustand. Ihre Nächte verliefen unruhiger und im Schlaf erlebte sie Träume, die sie in ferne Länder führten, die sie noch nie bereist hatte. Dazu kamen auch bedrohliche Träume, Albträume die immer wiederkehrten. Beispielsweise träumt sie unentwegt von einem Mord, der so realistisch erscheint, dass sie detaillierte Einzelheiten von der Örtlichkeit wiedergeben kann. In diesen Träumen, da ist Lisa B. sich heute sicher, sah sie den Mord an ihrer Herzspenderin in Reimersbude. Die Träume führten sie auf einen Spaziergang am Eiderdeich entlang, der im Nebel am Schleusenhäuschen in Reimersbude endete. Dort sah sie ein Auto mit hochgeklappter Kühlerhaube, hörte Orgelmusik, die aus dem Wageninneren kam, und sah eine Gestalt auftauchen, deren Gesicht sie genau beschreiben konnte.
In der nächsten Folge berichtet die Husumer Rundschau, wie Lisa B. mithilfe unserer Journalistin Maria Teske ein Phantombild von dem vermeintlichen Mörder erstellen ließ.‹
Nachdenklich faltet Swensen die Zeitung zusammen, geht in sein Büro und schaltet seinen Computer ein. Während die Programme hochfahren, bemerkt er, dass die Geschichte der Lisa Blau ihn verstört hat. Um sich selbst zu beruhigen, beschließt er, sich in naher Zukunft noch einmal die Akte vom Mord in Reimersbude vorzunehmen. Der Versuch, neben seinen Überlegungen die Melderegisterauskunft MeldIT aufzurufen schlägt fehl, weil er mit seinem Einfingersystem unkonzentriert über die Tastatur stolpert.
Was orgelst du dir da zusammen, ermahnt er sich. Mehr Achtsamkeit, Swensen!
Das Online-Formular erscheint und
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