Eidernebel
sich den Kugelschreiber hinter das rechte Ohr, klemmt sich die Speisekarte unter den Arm und eilt zum nächsten Tisch. Obwohl es erst 17.30 Uhr ist, gibt es im ›Historischen Braukeller‹ kaum noch einen freien Platz. Die Journalistin ist missmutig, hat heute ausnahmsweise früher in der Redaktion Schluss gemacht. Grübelnd guckt sie zum runden Deckengewölbe hinauf, dem Überbleibsel der ehemaligen Bierbrauerei. An der Wand gegenüber hängt ein gerahmter Druck von Claude Monets ›Seerosenteich‹.
»Wer als Journalist nicht über jede Brücke geht, sollte genau wissen, was er hier einbringt!«, dröhnt die Stimme von Think Big in ihren Ohren. Seit Tagen muss Maria Teske jeden Moment damit rechnen, dass der Chefredakteur einen seiner cholerischen Wutausbrüche bekommt, wenn sie sich auf der Themenkonferenz zu Wort meldet. Ihre Weigerung, den Ehemann des Mordopfers gleich nach der Tat zu interviewen, hat den Zeitungsmann tief verärgert. Zum Glück kommt die Reportage über die Herztransplantation bei den Lesern sehr gut an, was deutlich an den Leserbriefen abzulesen ist.
Schreibtischtäter, verflucht Maria Teske innerlich ihren Chef und schaut auf den dampfenden Teller, der plötzlich vor ihr steht. Nur nebenbei hat sie den Schatten der Bedienung wahrgenommen. Sie schaufelt gierig Hackfleisch und Kidneybohnen in den Mund und lässt ihre Wut derweil auf Sparflamme köcheln.
Wann war der Mann das letzte Mal richtig vor Ort?, geht es ihr durch den Kopf. Der schickt uns wie ein Feldherr an die Gefühlsfront, damit die Leser was zu weinen haben, ohne dabei selbst eine Träne zu vergießen.
»Ist der Platz noch frei?«
Die Journalistin nickt gedankenverloren und ein Yuppie-Typ setzt sich neben sie auf die Bank. Seine blonden Haare sind straff zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Das runde Gesicht ziert ein Dreitagebart, der im Gegensatz zum stahlgrauen Anzug und dem weißen Hemd mit Schlips steht.
»Kennen wir uns nicht?«, fragt er mit breitem Grinsen und beginnt, ohne eine Antwort abzuwarten, draufloszuplappern. »Christian Forchhammer! Ich arbeite in einer PR-Agentur in Hamburg und mache hier oben bis Weihnachten Urlaub!«
»Das ist zwar schon länger her, aber ich fürchte die Nummer haben Sie schon mal bei mir versucht«, zischt Maria Teske. »Schade nur, dass ich immer noch nicht interessiert bin!«
»’schuldigung«, sagt er knapp, steht wieder auf und sucht verstört das Weite.
Nicht mal in Ruhe essen kann man, denkt sie, poliert mit einem Stück Brot den Teller und greift nach dem Streichholzbriefchen, das die Bedienung mit dem Essen gebracht hat. Sie zündet ein Zigarillo an, lehnt sich in der Bank zurück und zieht mit geschlossenen Augen, bis die Glut knistert. Genussvoll inhaliert sie den Rauch. Als sie die Augen wieder öffnet, strahlt ihr das weiße Porzellan des Tellers entgegen, spiegelt ihre blanke Gier, die wichtige Dinge achtlos herunterschlingt, um beim täglichen Gift in Entzücken zu geraten. Ärgerlich drückt sie das halbe Zigarillo in den Aschenbecher, holt ihre Lederjacke von der Garderobe und begleicht an der Kasse ihre Rechnung. Die Kleinstadt glänzt bereits im Weihnachtsfieber, Lichterketten winden sich wie Doppelhelixstränge um kleine Tannenbäume, die über der Schaufensterfassade des Kaufhauses angebracht wurden. Nur Maria ist, trotz ihres Namens, nicht weihnachtlich zumute.
Dabei ist der Rummel schon Ende Oktober losgegangen, denkt sie und starrt ungläubig auf die Menschen, die Berge von Einkaufstüten über den Bürgersteig schleppen. Ein Albtraum für die Journalistin, die grundsätzlich in letzter Sekunde für Mama, Papa und Schwester einkauft.
Ihr Motto um diese Zeit: Einkaufen ist eine ansteckende Krankheit!
Tapfer marschiert sie durch den Glühweinduft auf das rosa Palmgartengebäude zu, als das Handy in der Jackentasche die Melodie von Miss Marple spielt. Sie fingert das Gerät heraus und drückt die Taste zum Annehmen des Gesprächs.
»Teske!«
»Jan Swensen! Störe ich Sie bei der Arbeit?«
»Herr Hauptkommissar! Nein, ich bin gerade auf dem Heimweg. Was verschafft mir das unerwartete Vergnügen?«
»Kann ich Sie kurz in der Stadt treffen? Ich lade sie zu einem Cappuccino im Storm-Café ein.«
»Überzeugt! Ich bin schon auf dem Weg dahin.«
Maria Teske macht auf der Stelle kehrt und eilt die Norderstraße wieder hinauf. Gleich hinter dem alten Uhren- und Schmuckladen Jessen steht ein Treppengiebelhaus, an dessen Fassade mit weißen Buchstaben
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