Eidernebel
Schriftzug ›Dancin’ Lounge‹, um im nächsten Moment wieder aufzuflackern und rote Farbfetzen über das feuchte Kopfsteinpflaster zu werfen. In dem kurzen Moment, indem die Neonröhren erlöschen, spenden nur zwei kleine Fenster zum Tanzsaal einen gelblichen Lichtschein. Die Tanzlehrerin hat plötzlich das Gefühl, als hätte sie ihren Albtraum der letzten Nacht bis hierhin mitgeschleppt.
Bilder taumeln durch ihren Kopf, fremd und betörend. Sie hört das heisere Hecheln der Hunde, die ihre Kämpfe beginnen, wenn die Nacht anbricht, hört ihr drohendes Knurren, das schrille Jaulen, wenn sich die spitzen Reißzähne in den Lauf eines Gegners graben. Ein großes Feuer wirft einen vibrierenden Schein in den Kreis mächtiger Eukalyptusbäume, die ihre glatten, gewundenen Stämme nach oben in ein schwarzes Nichts strecken. Eine Schar Trommler hämmert mit Stöcken auf fellbespannte Tongefäße, das Bassdröhnen treibt die Tänzer mit stampfenden Schritten über den Boden, rollt warm und erdig durch ihre nackten Leiber, Schlag auf Schlag, bis sie sich drehen, wild und trunken, in Trance auf der Stelle hüpfen und mit den flachen Händen auf ihre Oberschenkel klatschen. Das Publikum, das die Tänzer umringt, ruft im Takt nach Kali, der Todesgöttin mit den tausend Namen.
»Jai Kali Maa, Jai Kali Maa, du Herrscherin über eine aus den Fugen geratene Welt.«
Die Frauen klagen händeringend über das schreckliche Herz aus Stein in ihrer Brust. Der Trommelschlag zieht an, verdoppelt, verdreifacht sich, bis die Tänzer schweißbedeckt zu Boden sinken. Ein ascheverschmierter Sadhu mit gelb geschminkter Stirn unter seinen wirren Haaren reicht einem der Jünglinge ein Messer und führt ihn zu einem schwarzen Büffel. Die blanke Klinge dringt in den Hals des Tieres, Blut spritzt pulsierend in den Sand. Der Jüngling führt seinen Mund in den Strahl, trinkt gierig das dunkelrote Nass. Sein Kopf fällt in den Nacken, die Augen verdrehen sich ins Weiß. Er spürt, wie ein Schatten in ihn eindringt und sein Gesicht zu einer schwarzen Fratze verzerrt. Die Göttin hat jetzt von ihm Besitz ergriffen. Um seinen Hals hängt eine Girlande von bleichen Menschenschädeln. Er dürstet nach Leben, lässt seine rote Zunge heraushängen und reißt mit ihrer Spitze die Kruste der Erde blutig.
Lisa Blau drückt die Klinke nach unten, schließt kurz die Augen, um den Bilderspuk aus ihrem Kopf zu scheuchen, und drückt die Eingangstür auf. Verbrauchte Luft schlägt ihr entgegen, es riecht nach saurem Schweiß und süßem Parfüm. Im Vorraum beginnt ihr neues Herz schneller zu schlagen, erst unmerklich, aber doch fühlbar, als würde jeder Schlag behutsam versuchen ihr etwas zuzuflüstern, eine verschlüsselte Botschaft, die nur für ihren Körper, nur für ihr Bewusstsein wahrnehmbar ist. Aus dem Nebenraum dringt die Stimme von Harald Lehmann herüber.
»In dieser Position müssen Sie Ihren Partner viel enger halten. Also, meine Damen, haben Sie keine Angst. Und die Herren … ganz ruhig. Okay, also Ihre Beine kommen hierhin. Und die Damen, Ihr Oberkörper gehört dicht an den seinen. Das ergibt eine perfekte Balance.«
Aus den Lautsprechern tönen Bandoneon und Kontrabass, spielen eine melancholische Weise im Vierachteltakt. Ein lautes Händeklatschen schießt durch die geöffnete Tür zum Tanzsaal. »Aufstellung!« Rhythmische Schritte schlürfen über den Parkettboden.
»T – A – N.G.O! T – A – N.G.O!«
Winzige Schweißperlen sickern aus Lisa Blaus Stirnporen. Ihr erhöhter Herzschlag pumpt Blut durch ihren Körper, arbeitet mit grenzenloser Energie. Gleichzeitig dringt eine beklemmende Angst unter ihre Haut, kalt wie der Tod, setzt sich auf ihren Geist und lässt sie erstarren. Ihr Atem geht schwer, der Kopf schmerzt. Wahrscheinlich hat sie mindestens 20 Minuten regungslos in der orientalischen Sitzecke gesessen, als fröhliches Lachen und Wortfetzen sie aus ihrer Lähmung befreien. Die Tanzstunde ist beendet, Frauen und Männer strömen in den Vorraum, grüßen, streifen ihre Mäntel über und krakeelen laut zur Tür hinaus. Ihr Geschäftspartner Harald Lehmann kommt als Letzter in den Raum.
»Weißt du, warum das Licht draußen flackert?«, fragt Lisa Blau.
»Keine Ahnung«, sagt er beiläufig und schaut sich verwundert im Raum um. »Wo ist denn dieser Mann geblieben?«
Lisa Blau blickt verwirrt: »Welcher Mann?«
»Kurz vor der Stunde kam hier so ein großer, blonder Typ rein, fragte nach dir und wollte sich
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