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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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unterschwelligen Wir-Gefühl gewichen, als würde sich jemand ihren Körper mit ihr teilen. Dabei fühlt sie sich zwar weniger weiblicher, aber ihr Selbstvertrauen ist dagegen wesentlich größer geworden. Früher hätte sie sich eher als harmoniesüchtig bezeichnet, heute geht sie keiner Veränderung und Auseinandersetzung mehr aus dem Weg. Und dann sind da auch noch diese unerklärlichen Träume, manchmal auch Albträume mit bedrohlichen Bildern, die ihr neues Herz im Tiefschlaf zum Rasen bringen und sie schweißnass aufwachen lassen.
    Lisa Blau schließt die Augen, schluckt ihre Tabletten mit Wasser herunter und trinkt schnell noch ein weiteres Glas hinterher. Das neue Herz ist wieder gegen sein eigenes Immunsystem gewappnet. Sie verlässt das Haus, konzentriert sich nur auf den heutigen Tag und schiebt die negativen Gedanken beiseite. Als sie um die nächste Hausecke biegt, sieht sie ihren Bus schon an der Haltestelle stehen. Ohne nachzudenken, sprintet sie los und erreicht außer Atem die hintere Tür.
    Was machst du dir unnütz Sorgen. Dein Körper strotzt vor Kraft und Dynamik.
    Innerlich ist sie überzeugt, dass dieser Tag ein besonderer Tag werden wird. Vor genau einem Jahr konnte sie ihre Arbeit in der Tanzschule wieder aufnehmen, in der sie zusammen mit ihrem Turnierpartner Harald Lehmann unterrichtet und die ihr Partner während ihrer Krankheit weitergeführt hat. Am heutigen Mittag wird in den Räumen das erste Treffen einer Selbsthilfegruppe stattfinden. Sechs Transplantierte – viele Organempfänger mögen das Wort ›Organempfänger‹ nicht – hatten sich nach einer Zeitungsannonce von Lisa Blau gemeldet und ihr Interesse bekundet. Daraufhin hatte sie das Treffen organisiert.
    Der Bus hält in Kiel an der Station gegenüber vom Schwedenkai, an dem gerade eines der riesengroßen Fährschiffe, hoch wie ein Dreifamilienhaus, festgemacht hat. Lisa Blau geht zu Fuß in die Hafenstraße weiter und biegt dann links in die Andreas-Gayk-Straße. Dort im Hinterhof eines Wohnblocks befindet sich ihr Tanzstudio ›Dancin’ Lounge‹. Vor der Tür stehen bereits ein großer kahlköpfiger Mann und eine Frau mit auffällig blonden Locken.
    »Möchten Sie zu dem Treffen der Selbsthilfegruppe?«, fragt Lisa Blau.
    »Richtig! Sind Sie Lisa Blau?«, fragt der Mann zurück.
    »Genau, die bin ich«, antwortet sie und muss über das Wort ›ich‹ insgeheim lächeln, »ich lass Sie erst einmal herein.«
    30 Minuten später sitzen in dem 60 Quadratmeter großen Tanzsaal vier Frauen und drei Männer etwas verloren in einem Kreis und haben soeben ihre Vorstellungsrunde beendet.
    »Ich dachte es wäre gut, uns einfach über unsere komplizierte Situation auszutauschen«, startet Lisa Blau den ersten Annäherungsversuch. »Ich erzähl am besten, wie es mir zurzeit so geht. Also, bei mir gibt es Tage, da fühle ich mich in der Mitte durchgerissen und wieder zusammengenäht. Man hat Teile aus meinen Körper herausgenommen und durch Teile eines anderen Menschen ersetzt. Große, wichtige Teile. Ich glaube, es gibt eine tiefe Trauer in mir, Trauer über den Verlust.«
    »Das kenne ich auch«, bestätigt die Frau neben ihr. Sie heißt Julia und ist Mitte 30, trägt eine runde Brille, einen langen weinroten Pullover und Jeans. Die blonden Locken erinnern an einen Rauscheengel. »Jeder sagt einem ständig, was wir für ein Glück haben, dass wir überhaupt noch am Leben sind. Ehrlich gesagt, ich kann es nicht mehr hören. Mir geht es zeitweise so etwas von sauschlecht, das kann sich keiner von den netten Menschen um mich herum überhaupt vorstellen.«
    »Völlig richtig!«, unterbricht Dörte, eine schlanke Frau mit braunen Haaren, die wie eine Kappe auf ihrem Kopf wirken. Sie sitzt mit angezogenen Beinen, fast unbeweglich auf ihrem Stuhl. »Niemand will von mir hören, dass ich mich krank fühle. Manchmal kotzt es mich an. Die meisten Leute wollen kein tief gehendes Gespräch, sie fühlen sich gut, wenn es möglichst an der Oberfläche dahinplätschert. Wenn jemand anruft, versuche ich immer die Alte zu sein und immer nett zu bleiben.«
    »Ich hab mich schon gefragt, ob meine Transplantation die richtige Entscheidung war. Gestern Abend habe ich in einer Fernsehsendung ein Löwenjunges gesehen, das sein Rückgrat gebrochen hatte und sein gelähmtes Hinterteil hinter sich herzog. Das hat mich so sehr an mich selbst erinnert, an meinen Kampf, am Leben zu bleiben. Und nun? Nachdem ich das neue Herz habe, ist das nicht zu Ende. Es geht

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