Eidernebel
irgendein Konflikt voraus. Ich will nur noch einmal daran erinnern, dass bei einem Mord zu circa 80 Prozent zwischen Opfer und Täter eine Beziehung besteht.«
»Übrigens bekommt man K.-o.-Tropfen heute locker im Internet. Es gibt sogar Foren, auf denen es Anweisungen gibt, wie man diese GHB-Droge problemlos selbst zusammenmixen kann«, hatte Mielke nach einer Weile eingebracht.
»Ich sag nur, italienische Mafia! Oder die russische Mafia!«, war Jacobsen bewährter Kommentar gewesen.
»Bevor wie jetzt alle in die Richtung unseres Kollegen Jacobsen ermitteln«, hatte Colditz seine Anweisungen fortgesetzt, »sollten wir erst mal mit unserer altbewährten Ermittlungsstrategie beginnen. Wir durchkämmen an erster Stelle das Umfeld der Familie, der Freunde und Bekannten. Das hat sich tausendfach bewehrt. Erst wenn wir dort keine Spur finden, erweitern wir unseren Radius. Dann durchleuchten wir dieses Volksfest, zu dem das Opfer anscheinend an dem Abend unterwegs war, vielleicht auch dort gewesen ist. Das heißt, wir müssen so viele wie möglich von den Besuchern, die sich dort aufgehalten haben, identifizieren. Das ist eine elende Affenarbeit, ich weiß, aber wir brauchen jedes Detail von diesem Abend. Lasst euch von den Leuten Fotos geben, die sie an den Abend gemacht haben. Jedes unbekannte Gesicht, jeder Name ist wichtig. Und natürlich sollten wir die ganze Zeit die K.-o.-Tropfen im Hinterkopf behalten. An die Arbeit, Kollegen!«
In den darauf folgenden Wochen hatten die Beamten der SOKO Kirche durchgehend ermittelt, waren aber in ein merkwürdiges Nichts gelaufen. Keine Spur zu den K.-o.-Tropfen, keine Spur in der Familie. Das Alibi des Exfreundes konnte zwar nicht hundertprozentig bestätigt, aber auch nicht eindeutig widerlegt werden. An dem Gymnasium in Husum war das ermordete Mädchen zwar beliebt, aber nicht auffälliger als alle Jugendliche in ihrem Alter gewesen. Die Aussagen der Schulfreundinnen und Freunde brachten keine Erkenntnisse zu dem Verbrechen. Im Umfeld des Biikebrennens wurden im Laufe der Zeit Hunderte von Personen überprüft, aber niemand hatte das Mädchen an dem Abend dort gesehen. Niemand konnte auch nur den kleinsten brauchbaren Hinweis geben. Das Volksfest hatte auch dieses Jahr wieder Unmengen von Touristen angezogen, die zum größten Teil, selbst wenn sie auf Fotos abgelichtet waren, nicht identifiziert werden konnten. Die Spur zum Mordfall Witzworter Kirche blieb kalt.
Püchel übte wie immer mächtigen Druck aus. »Wir können uns keinen zweiten ungeklärten Mordfall in dieser Region leisten«, hatte er ein paar Mal bei den Frühbesprechungen gedroht. Doch das war Ausdruck der allgemeinen Hilflosigkeit, durch die erst recht nichts zutage gefördert wurde. Nach drei erfolglosen Wochen hatte sich bei den Kollegen und Swensen ein tiefer Frust breit gemacht. Dazu plagte den Hauptkommissar noch diese unterschwellige Angst, die ihn selbst während der wenigen Freizeit nicht zur Ruhe kommen ließ. Sie hatte ihn sogar öfters von der täglichen Meditation abgehalten, denn nur während der Dienstzeit fühlte er sich einigermaßen davor sicher. Da war immer so viel zu tun, dass es nicht dazu kam, dass das Gesicht des toten Mädchens vor seinem inneren Auge erschien.
So hatte sich unterschwellig eine Angst vor der Entspannung gebildet, in der er seinen Körper sofort nach Anzeichen seiner früheren posttraumatischen Belastungsstörung absuchte, eine Angst vor der Angst, dass er den Anblick der zugerichteten Leiche nicht mehr aus dem Kopf bekommen würde.
»Im Buddhismus sind die Dämonen kriegerische Wesen«, wird Swensen von der Stimme seines Meisters aus seinen Grübeleien gerissen. »In der westlichen Welt würdet ihr sie Machtmenschen nennen. Die Mentalität eines Dämons ist ziemlich klug, nicht der kleinste Winkel in euch bleibt ihm verborgen. Wenn wir glauben, mit einem Dämon Auge in Auge zu kommunizieren, steht er bereits in unserem Rücken. Es ist wie in einer Paranoia. Die Mentalität eines Dämons ist eine der Verteidigung dienende Gestalt des Stolzes, verwandt mit dem Wind, dem Umherrasen, dem Versuch, alles sofort zu erreichen. Sie will uns ständig zu etwas Größerem und Besserem bringen. Sie hält uns ständig im Kampf, um unsere Sicherheit aufrechtzuerhalten. Sie hält uns davon ab, irgendetwas anzunehmen und irgendetwas zu erfahren.«
Was hat denn das jetzt mit mir zu tun?, denkt Swensen abwehrend, ich bin doch kein Machtmensch und ich hab keine Paranoia, ich
Weitere Kostenlose Bücher