Eidernebel
Zeitschriften und Rätselhefte liegen.
Rösener steht auf, lässt sich in einen Sessel plumpsen, legt die Füße auf den Tisch und greift gelangweilt zum neuen Spiegel. Das Titelbild zeigt einen amerikanischen Soldaten in Bagdad, der eine US-Flagge über den Kopf der Saddam-Statue stülpt.
So geht die Macht dahin, denkt er, und wie von selbst springen seine Gedanken in die Zeit kurz vor dem Mauerfall. Nicht im Traum wäre er damals darauf gekommen, dass es mit der DDR einmal zu Ende gehen könnte. Er erinnert sich, wie seine Kollegen Ende 1989 noch witzelten: Der Letzte macht das Licht aus.
Jetzt ist Saddam dran, damals war es der Genosse Erich Honecker, Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Erster Sekretär des Zentralkomitees, Staatsratvorsitzender und Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrats, Führer der Kampfgruppen … und so weiter. Auch sein Abgang war nicht gerade rühmlich. Anfang 1990 hatte man ihn verhaftet, Verdacht auf Korruption und Hochverrat, dann aber wieder freigelassen. Genosse Honecker hatte sich daraufhin nach Moskau abgesetzt, wurde 1992 ausgeliefert, der Prozess gegen ihn jedoch eingestellt, weil er Leberkrebs hatte.
Röseners Gedanken beginnen zu sprudeln, er muss an die letzte Feier denken, 40 Jahre DDR, am 3. Oktober 1989, kurz bevor der Staat auseinanderkrachte. Er erinnert sich an das Bankett, das die Stasi für sich selbst und ihre sowjetischen Genossen gab. In den Räumen tummelten sich über tausend Leute, während draußen die Unruhen auf den Höhepunkt zusteuerten. Erich Mielke hielt Einzug, rechten Arm hoch, Finger hinters Ohr, linker Arm gestreckt, zwei Finger in die Höhe, und dann eine vierstündige Rede. Einige Worte sind Rösener bis heute im Gedächtnis geblieben: ›Und vergesst nie das eine, Genossen: Das Wichtigste, was ihr habt, ist die Macht! Haltet um jeden Preis an der Macht fest! Ohne sie seid ihr nichts!‹
Wo er recht hatte, hatte er recht, denkt Rösener und kehrt vor den Bildschirm zurück. Saddams kommen und gehen, aber wer clever ist, der findet einen neuen Dunstkreis der Macht. Und je größer der Dunstkreis, um so eher kann man seine kleinen Geschäftchen machen. Das war so und das wird auch immer so sein.
Rösener startet den Rekorder. Auf dem geteilten Bildschirm erscheinen sechs Kameraeinstellungen aus der Libo-Filiale. Mit einem Klick der Maus hat er formatfüllend nur das Bild vom Kassenraum. Die streichholzschachtelgroße Kamera für diese Aufnahme hat er selbst unter der Deckenplatte angebracht. Ein Wunderwerk der Technik, das Objektiv ist kleiner als ein Eincentstück. Die Überwachung geht laut Vertrag noch sechs Tage weiter. Am Samstag nach Ladenschluss wird abgebaut und der Rest ausgewertet.
Dorit Missler kommt mit ihrer Kasse in den Kassenraum, Zutritt nur für das Personal. Sie nimmt das Bargeld, die Gutscheine und Belege der EC-Kartenzahlungen heraus und zählt die Summen zusammen. Danach trägt sie alle Beträge in das vorgefertigte Arbeitsblatt und reicht es dem Filialleiter Kretschmer herüber. Der fertigt einen Ausdruck vom aktuellen Kassenstand.
»Da gibt es mal wieder eine Differenz von 2 Euro 15 Cent minus, Frau Missler«, sagt der Filialleiter mit süffisanter Stimme.
»Was heißt hier › mal wieder‹ ?«
»›Mal wieder‹ heißt ›mal wieder‹. Das ist schließlich nicht das erste Mal, oder.«
»Ich zahle die Differenz aus eigener Tasche.«
»Das ist ja eh selbstverständlich! Die Sache geht diesmal nicht ohne Abmahnung, ist das klar?«
»Wir arbeiten hier schließlich jeden Tag länger, als es im Arbeitsvertrag steht …«
»…wollen Sie auch noch rebellieren?«
»Nein, will ich nicht! Dann noch einen schönen Feierabend.« Die Stimme von Dorit Missler überschlägt sich fast. Mit hochrotem Kopf stürmt sie aus dem Raum.
Rösener klickt sich in den Verkaufsraum, Kameraeinstellung an den Süßigkeitsregalen.
»Heeh, Dorit, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, ruft Tina Jürs ihrer Kollegin hinterher.
»Voll Scheiße, dieser Saftladen!«, donnert Dorit Missler los. »Ich reiß mir hier den Arsch auf und Kretschmer droht mir mit ’ner Abmahnung. So geht das nicht mehr weiter, dass versprech ich dir!«
Die Frau mit dem Pferdeschwanz guckt die Kollegin verwundert an: »Wie meinst du denn das?«
»Ich hab keine Lust, mir den Scheiß noch länger gefallen zu lassen. Mensch, wir sind genügend Leute hier in diesem Laden. Wir können einen Betriebsrat wählen,
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