Eidernebel
kann annehmen und will etwas erfahren. Swensen beschließt aufzustehen und zu meditieren.
Er schlägt die Bettdecke zurück, richtet sich auf, sitzt eine Weile auf der Bettkante, kann sich aber nicht entschließen sich zu erheben.
»Was machst du denn da, Jan, mitten in der Nacht?«, hört er Annas gequälte Stimme in seinem Rücken.
»Ich bin hellwach und will gerade aufstehen. Schlaf einfach weiter.«
»Bleib hier!«, bittet Anna. Eine Hand packt ihn am Arm und zieht ihn zurück ins Bett. »Wir haben schon Wochen nicht mehr richtig miteinander gesprochen. Und außerdem siehst du schlecht aus, mein Lieber!«
»Es ist stockdunkel, wie willst du das sehen?«
»Jan Swensen, was soll der Kinderkram? Ich bekomm doch mit, wie du hier täglich hereinschleichst. Und ich sag ja auch nichts, wenn du so gut wie gar nichts mehr von dem machst, was wir vereinbart haben, abwaschen zum Beispiel, geschweige denn Staub saugen.«
»Der Fall ist ziemlich hart, Anna!«
»Das kann ich mir denken, Jan, und deshalb übernehme ich im Moment ja einiges mehr. Aber ich arbeite auch. Bist du in deiner Wohnung früher genauso versackt ?«
»Was meinst du denn mit ›versackt‹?«, entgegnet Swensen und hört, wie Anna aus dem Bett aufsteht, sich zum Fenster hinübertastet, es öffnet, die Fensterläden aufstößt und das Fenster wieder schließt. Licht flutet ins Zimmer und sein letzter Schutz ist dahin.
»Mit ›versackt‹ meine ich deine verschwiegene Unzugänglichkeit«, fleht Anna und legt sich wieder neben ihn ins Bett. »Wenn ich schon dafür sorge, dass du dich nicht um den Alltag kümmern musst, dann kannst du wenigstens ab und zu mit mir reden. Ich weiß nichts von dir, ich seh dich zwar jeden Tag, aber du bist nicht da. Wo bist du, Jan?«
»Was willst du hören? Wo soll ich sein?«
»Was geht in dir vor?«
»Nichts, was da nicht schon immer vorging. Ich bin wie immer.«
»Ich weiß nicht, wie du das früher gemacht hast. Aber wir sind in der Zwischenzeit zusammengezogen. Hast du geglaubt, dadurch würde sich überhaupt nichts ändern?«
»Ich weiß nicht, was du willst, Anna, was soll sich denn verändern?«
»Du willst doch nicht dein gewohntes Eigenbrötlerleben, das du jahrelang in der Hinrich-Fehrs-Straße durchgezogen hast, mit mir einfach weiterführen?«
»Ich bin Kriminalpolizist! Weißt du eigentlich wirklich, was ich mir manchmal mit ansehen muss? Soll ich beim Abendbrot ein wenig darüber plaudern? Stell dir vor, wir haben eine Leiche in der Witzworter Kirche gefunden. Kannst du mir mal die Butter rüberreichen? Du wirst es nicht glauben, mit sechs Messerstichen. Die Kirchenbänke waren von oben bis unten mit Blut voll gespritzt. Schneidest du mir bitte auch noch ein Brot ab?«
»Ich dachte dabei nicht ausgerechnet an das gemeinsame Abendbrot. Ich dachte mehr daran, dass du mir in einer ruhigen Stunde erzählst, wie du dich dabei fühlst, wenn du dir so etwas Schreckliches ansehen musst.«
»Anna, solange man in so einer Ermittlung steckt, herrscht in einem ein Ausnahmezustand. Ich habe in den letzten Wochen mit so vielen Menschen gesprochen, um irgendeinen Hinweis auf den Täter zu bekommen, dass ich selber schon nicht mehr weiß, wie die alle aussehen. Wenn so ein Fall nicht vorangeht, sind selbst die Kollegen gereizt. Jetzt will Colditz wahrscheinlich auch noch einen alten Fall dazunehmen.«
»Einen alten Fall?«
»Ja, der Fall von 98, du erinnerst dich bestimmt. Ich war da grad fünf Jahre hier, als diese junge Frau bei Reimersbude erschlagen wurde.«
»Dieser Fall, den ihr nie aufgeklärt habt?«
»Ja, genau der. Colditz will, sicher auf Druck vom Chef, dass wir ihn noch einmal aufrollen, weil beide Tatorte nicht weit auseinander liegen. Das bedeutet, wir sollen unvoreingenommen, ohne die alten Schlussfolgerungen zu übernehmen, die gesamten Akten noch einmal durchgehen. Das zeigt natürlich besonders deutlich, dass wir mit dem neuen Fall nicht mehr weiterkommen. Vielleicht wird der Witzwort-Mord, selbst wenn Heinz Püchel noch so zetern wird, demnächst ebenfalls zu den Akten gelegt werden müssen. Ich glaube, das zieht mich am meisten runter. Noch so einen ungeklärten Fall kann ich mir im Moment überhaupt nicht vorstellen. Stephan hat den Eltern noch vollmundig versichert, dass wir alles tun werden, um den Mörder zu finden.«
»Das hört sich für mich an, als würde für dich noch etwas Tieferes dahinterstecken?«
»Der Fall geht mir irgendwie besonders nahe. Ich weiß auch nicht, warum
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