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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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… vielleicht, äh … vielleicht liegt es daran, dass ich der Erste am Tatort war. Ich war mit diesem toten Mädchen völlig allein in der Kirche, bis die Kollegen kamen. Das Bild spukt öfter mal in meinem Kopf herum. Ich hab einfach Angst, dass sich wieder solche Symptome einstellen …, wie damals in Hamburg, nachdem die toten Jungen gefunden wurden.«
    »Darüber können wir miteinander sprechen, Jan. Das musst du nicht allein ausmachen. Also, für mich hört sich diese Angst mehr nach einer Angst vor der Angst an. Du brauchst unbedingt mehr Ausgleich nach der Arbeit, mein Lieber.«
    »Ich hab im Moment überhaupt keine Energie zum Meditieren.«
    »Das ist vielleicht auch nicht das Richtige. Du brauchst körperliche Betätigung. Sport wäre nicht schlecht, Joggen ist ideal. Und du solltest ab und zu auch etwas Geselliges tun, etwas neben dem täglichen Weltverbessern. Du braucht auch einfach nur mal Spaß. Wie wäre es mit Boßeln, geh doch mal zum Boßelverein in Witzwort. Ich bin bei den Frauen. Es gibt natürlich auch einen für Männer. Das macht wirklich Spaß, ehrlich!«
    »Boßeln? Nee, nicht das auch noch!«
     
    *
     
    Durch das Schlafzimmerfenster fällt grelles Sonnenlicht. Der Wetterbericht vom Vorabend versprach einen ungewöhnlich warmen Apriltag und das scheint wirklich zu stimmen. Lisa Blau greift nach einem hellblauen Sommerkleid, zieht es über und tritt aufgekratzt vor den Flurspiegel. Im Ausschnitt ist ein kleines Stück ihrer Operationsnarbe zu sehen, die unter dem leichten Stoff in einer langen senkrechten Linie über den Oberkörper verläuft und in Höhe des Magens von einer weiteren Narbe durchkreuzt wird. Die Narben gehören mittlerweile so selbstverständlich zu ihr, dass sie die Kleidung, die sie kauft und für den Tag auswählt, nicht mehr davon abhängig macht. In ihr gibt es nach wie vor ein tiefes Gefühl von Dankbarkeit, dankbar am Leben zu sein. Sie trägt ihre Narben mit Demut und Stolz, wie ein Kriegsveteran, der mit den Wunden aus der gewonnenen Schlacht seinen Mut heraufbeschwört. Sie hat die große Schlacht gegen den Tod gewonnen und die Narben sind bleibende Erinnerungen an die von Schmerzen geprägte Zeit mit ihrer Krankheit. Immer noch etwas ungläubig sieht Lisa jetzt eher hoffnungsvoll in die Zukunft und es wird ihr von Tag zu Tag klarer, dass das Schlimmste hinter ihr liegt.
    In der letzten Woche war das passiert, wovor sie sich nach der Transplantation am meisten gefürchtet hatte. Die erste Erkältung hatte sie erwischt, obwohl sie übervorsichtig gewesen war. Das ist dein sicherer Tod, war es ihr sofort durch den Kopf geschossen, als es im Hals zu kratzen angefangen hatte. Das wird eine Grippe oder Bronchitis. Doch mehr als Halsschmerzen und dass ihre Nase lief, war nicht passiert. Das Ganze hatte nur vier Tage gedauert. Mehr als ungewöhnlich für Lisa Blau, die deshalb früher öfter eineinhalb Wochen das Bett hüten musste.
    Es geht dir gut, Lisa, es geht dir verdammt gut, sagt sie innerlich zu ihrem Spiegelbild und ihr fällt ein, dass auch ihre schweren Migräneanfälle, die sie früher aus heiterem Himmel heimsuchten und oft tagelang ein halbseitiges Taubheitsgefühl erzeugten, völlig verschwunden sind.
    Irgendetwas geht in deinem Körper vor, irgendetwas Neues. So vieles ist anders, irgendwie ist es unheimlich.
    Lisa Blau schiebt die Ahnung beiseite, geht in die Küche und holt die Tablettenpackungen aus der Schublade. Es ist die tägliche Zeremonie. Noch bevor sie ihr Frühstück zubereitet, zählt sie ein Dutzend Tabletten ab, ihre Finger sortieren sie wie von selbst in eine Reihe. Darunter ist auch Cyclosporin, ein Medikament, das die Abstoßung des fremden Organs verhindert und von dem sie weiß, dass sie es bis an ihr Lebensende einnehmen muss.
    Die Tanzlehrerin muss innerlich lächeln, als sie wie gewohnt einen schwarzen Tee aufbrüht und einige Kardamomsamen mit hineingibt. Vor ihrer Transplantation wäre das undenkbar gewesen. Nichts und niemand hätte sie von ihrem Frühstückskaffee abbringen können. Vieles hat sich geändert. Früher gab es nur Wurst oder Käse auf Brot. Jetzt liebt sie Süßes über alles. Heute entscheidet sie sich für zwei Scheiben Vollkornbrot mit Erdnussbutter.
    Manchmal glaubt sie, dass noch jemand anderes in ihr ist. Sie kann es nicht beschreiben, eine Art inneres Geheimwissen, das sie selbst nicht begreift. Irgendwie gibt es dieses eindeutige ›Ich bin Lisa Blau‹ nicht mehr. Das Ich-Gefühl ist einem

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