Eidernebel
immer weiter, für den Rest meines Lebens. Auch jetzt muss ich mich darum kümmern, wie ich am Leben bleiben kann. Das kann nicht der Sinn des Lebens sein.«
»Hat jemand von euch schon mal das Gefühl gehabt, dass er sich nach der Transplantation verändert hat?«, fragt Lisa Blau, um das Gespräch in eine andere Richtung zu bringen. »Meine Vorlieben beim Essen haben sich dramatisch verändert. Früher konnte ich zum Beispiel scharfes Essen überhaupt nicht ausstehen. Heute kann es nicht scharf genug sein. Ich gehe neuerdings besonders gerne indisch essen.«
»Ich glaube manchmal, ich bin nicht der Gleiche wie vor der Transplantation«, meldet sich ein junger Mann mit Namen Paul zu Wort. »Es gibt … also ich empfinde das jedenfalls … also, das ist so eine Ahnung, als wenn es eine fremde Präsenz in meinem Inneren gibt. Gerade neulich, bei einer Nachuntersuchung, da sagte ich vor der Biopsie zu meinem Herzen: Da müssen wir jetzt durch. Es hat keinen Zweck, wenn du dich jetzt querstellst, sonst geht es uns beiden an den Kragen.«
»Vielleicht sollte ich auch etwas sagen«, meldet sich der Kahlkopf, der sich als Jürgen vorgestellt hatte. »Ich bin … bei mir … so was kenn ich von mir gar nicht. Also, jetzt schon mehrmals, danach … nach der OP …, da hab ich vor meiner Frau geflucht, schon ziemlich vulgär, ›ihr Wichser‹ und so ’n Zeug. Ich hab dabei jedes Mal an den gedacht, dessen Herz jetzt in mir ist. Aber über so was kann man doch nicht nachdenken, sonst steigt eine panische Angst in mir auf. Ich hab einmal geträumt, dass eine Horde Ärzte um mich herumsteht und darüber diskutiert, wann der günstigste Moment wäre, das Herz wieder herauszunehmen. Ich will nicht so weit gehen, dass es zwei Persönlichkeiten in mir gibt, aber ich habe mich verändert.«
»Aber das ist doch unmöglich«, fährt eine Frau namens Carla erbost dazwischen. »So etwas gibt’s nicht, das ist doch alles Quatsch! Mein neues Herz ist mir jedenfalls nicht fremd und da ist auch kein anderer Mensch in mir. Ich hab nur mal einen komischen Traum gehabt, aber ein Traum ist doch nur ein Traum!«
»Was war denn das für ein Traum?«, fragt Lisa Blau. »Kannst du uns etwas mehr dazu sagen?«
»Wenn ihr das unbedingt möchtet.«
»Aber deswegen treffen wir uns doch hier.«
»Ich habe gerade eine sehr schwere Zeit hinter mir«, beginnt Carla. »Es gab eine Abstoßattacke von meinem Herzen. In der Nacht im Krankenhaus hatte ich diesen merkwürdigen Traum. Zwei weibliche Gestalten kämpften an einem Abgrund. Die eine versuchte immer wieder die andere hinabzustoßen. Man hat mir gesagt, dass ich mein neues Herz von einer Frau bekommen habe, und dieser Kampf erinnerte mich an das typische Stutenbeißen unter Frauen. Am nächsten Tag habe ich mein Herz innerlich angeschrien: Du bist mein! Jemand anderer hat mir dich gegeben! Das wird für immer so bleiben!«
*
Es ist kurz vor 5.45 Uhr. Ein großer Sattelzug biegt auf den noch leeren Parkplatz der Libo-Filiale in Friedrichstadt. Zwei Männer steigen müde aus und trotten zum Heck. Einer öffnet die Verriegelung der Hecktür und der andere klettert hinauf und beginnt mit dem Hubwagen die Ware auf die Ladebordwand zu fahren. Gegenüber gehen die Lagertüren auf. Ein großer Mann mit Sommersprossen und blondem Haar scheucht drei junge Frauen vor sich her, deutet auf die Paletten, die gerade hydraulisch mit der Ladebordwand abgesenkt werden, und verschwindet danach wortlos wieder im Inneren des Gebäudes. Dorit Missler, eine hochgewachsene Brünette, legt der Frau neben sich die Hand auf den Oberarm, um den sich ein tätowiertes keltisches Ornament windet. Die schmächtige Frau hat eine leichte Höckernase, ihre blonden Haare sind zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
»Schau mal, Tina«, sagt die Brünette, »da drüben steht schon wieder so ’n schwarzer Audi A4.«
»Na, und? Den hat bestimmt jemand stehen gelassen.«
»Quatsch Mensch, guck doch genau hin! Da sitzen welche drin. Ich sag dir, das sind diese jungdynamischen Wachhunde. Grün hinter den Ohren und frisch von der Uni. Die Chefetage setzt die auf uns an, hab ich gehört. Lungern nur hier rum, um uns zu bespitzeln. Ob wir auch wirklich Punkt 6 Uhr anfangen.«
»Meinst du wirklich? Das darf doch nicht war sein!«, schimpft die Frau mit dem Pferdeschwanz erbost und schiebt mit dem Hubwagen eine Palette Brokkolikartons davon.
Dorit Missler nimmt sich die Karotten und folgt ihrer Kollegin.
»Zügig,
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