Eidernebel
zügig, die Damen!«, ermahnt Filialleiter Jürgen Kretschmer, als sie durch den Lagerraum eilen. »Und wenn Sie fertig sind, Frau Missler, schnappen Sie sich die Kehrmaschine. Um acht kommen die Kunden, dann möchte ich, dass Sie Kasse eins übernehmen!«
»Nicht schon wieder! Da komm ich den ganzen Tag nicht hinter raus. Ich würde heute lieber für Kasse zwei eingeteilt werden.«
»Höre ich da etwa irgendeinen Widerstand?« Die Stimme des Filialleiters nimmt einen suggestiven Unterton an.
»Es geht wirklich nicht, Herr Kretschmer. Ich kann nicht den ganzen Tag sitzen, ich hab es mit dem Rücken.«
»Sie waren und sind die größte Simulantin, die ich kennengelernt hab, Frau Missler. Oder hat Ihr Mann Sie wieder nicht zugedeckt, als er Sie von hinten genommen hat?«
Dorit Missler bleibt für einen Moment die Luft weg, ihr fehlen die Worte. Ihre Augen werden feucht, Tränen rollen die Wangen hinab. Sie rennt zur Toilette und schließt die Tür ab. Wenig später hämmert es an der Tür.
»Sie haben fünf Minuten, dann sind Sie wieder an Ihrem Arbeitsplatz, oder ich mache eine Meldung! Ist das klar!«
Die Frau wartet einen Moment, schleicht wie ein geprügelter Hund zur Kehrmaschine und beginnt wortlos den Verkaufsraum zu säubern.
Um 8 Uhr sitzt sie wie betäubt hinter der Kasse und rüstet sich für den ersten Ansturm. Meistens wartet schon eine Handvoll Kunden vor der Tür, dass der Laden öffnet. Wenig später geht es los. Automatisch blenden sich die Gedanken aus. Unterstützt vom ewigen »Biep – Biep – Biep« zieht sie die Artikel über den Scanner, greifen – ziehen, greifen – ziehen. Wie in Trance sprudeln immer die gleichen Worte aus ihr heraus.
„Macht 21 Euro 70. Und 1 Euro 30 zurück, schönen Tag noch, danke gleichfalls.«
»Hallo, Biep, 3 Euro 99, Biep, 1 Euro 55, Biep, und 5 Euro 59, das macht 11 Euro 13. Haben Sie es nicht kleiner? Macht nichts, es geht schon, 38 Euro 87 Cent zurück, den Bon, vielen Dank und schönen Tag noch.«
»Ich wollte Sie nur kurz darauf hinweisen, dass Sie die letzte halbe Stunde unter 40 Scans pro Minute waren«, flüstert ihr der Filialleiter im Vorbeigehen ins Ohr. »Reißen Sie sich zusammen, sonst sorge ich persönlich dafür, dass der nächste Testkäufer bei Ihrer Kasse auftaucht. Verstanden!«
Die Wut legt sich bleischwer auf ihre Zunge, aber sie nickt nur, spürt die Kupfer-Fett-Schicht an ihren Fingerkuppen.
»Haben Sie eine Kundenkarte?«
Die Finger tippen auf die Tasten, fühlen sich an, als hätten sie winzige Airbags an den Spitzen. Das kommt von diesen Eincentstücken, die ich wegen dieser elenden ›99 Cent Preise‹ ständig rausgeben muss, denkt sie.
»Die Toilette ist dort drüben!«
Wann ist es endlich 13 Uhr?
Diese aufgedonnerte Göre mustert mich total arrogant von oben herab und kichert hinter vorgehaltener Hand heimlich mit der Zicke neben ihr.
»Biep!«
Rentner mit sexistischen Andeutungen.
»Biep!«
Männlicher Macho mit Bierwampe.
»Biep!«
Kind, das sich auf den Boden wirft.
»Biep!«
Betrunkener mit Fahne.
»Biep!«
Hilflose Oma.
Kurz vor 13 Uhr hat der digitale Biepton, Nadelstich für Nadelstich, die Nerven blank gelegt. Das ist die Zeit, in der manchmal Rachegedanken durch ihren Kopf geistern. Dann möchte sie am liebsten alle erwürgen, oder wenigstens einen, der ihr blöd kommt. Doch bevor es so weit ist, kann sie jedes Mal, auch heute wieder, das Schild ›Die Kasse ist geschlossen‹ auf das stehende Band stellen.
Als die Frau an der Kasse eins zügig den Arbeitsplatz räumt, stoppt Wilhelm Rösener den 16-Kanal-Rekorder. Er gähnt lauthals und reckt die Arme mit einem Stoßseufzer über dem Kopf. Im Rücken zieht es schmerzhaft von der gekrümmten Haltung. Das waren schon vier Stunden Material aus der Libo-Filiale Friedrichstadt, die er zuletzt eher im Dämmerzustand auf dem Monitor verfolgt und dabei mit rasanter Fingerfertigkeit die Timecodes aller gesprochenen Worte der Kassiererin und die inhaltlichen Stichworte dazu stenografiert hatte.
Auf seiner Arbeitsplatte hat sich bereits ein kleiner Stapel Zettel voll geschwungener Kürzel angesammelt. Der enge Raum ist voll gestopft mit Technik, drei Flachbildmonitore und Digitalrekorder, DVD- und MP3-Player, PCs, externe Brenner, Faxgerät, Drucker, Scanner, zwei Telefone und eine Kaffeemaschine auf der Fensterbank. Dazu kommen zwei lange Regale voller Kisten und Aktenordner, dazwischen zwei Sessel und ein kleiner Tisch, auf dem
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