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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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verprügelt worden sein.«
    »Was ist bloß aus unserem idyllischen Eiderstedt geworden? Ich glaub, ich fall bald vom Glauben ab«, stöhnt Swensen auf.
    »Da bist du an einem unpassenden Ort«, grinst Lade und deutet auf den gekreuzigten Christus über seinem Kopf, der zwischen den Schnitzfiguren von Maria und Johannes hängt.
    »Lass den Blödsinn, Michael. Das ist nicht der passende Moment zum Scherzen, finde ich.«
    »Dann schau dir die Leiche vor dem Altar an. Der Verrückte, der das gemacht hat, ist wesentlich pietätloser mit dem christlichem Ambiente umgegangen«, knurrt Lade und zieht mit angesäuertem Gesicht von dannen.
    Swensen schüttelt verständnislos den Kopf. Er schaut nach rechts auf das achteckige Taufbecken, über dem ein Engel mit goldenen Flügeln in einem blauen Gewand schwebt und einen goldenen Kranz in seinen Händen hält. Fünf Meter vor dem Altar stehen Silvia Haman und Stephan Mielke, die Peter Hollmann beobachten, wie er die kunstvoll geschnitzten Palmenblätter der Abendmahlbänke, die zu beiden Seiten des Altarblocks stehen, auf Spuren untersucht. Auf der ersten Stufe liegt eine große Frau auf dem Bauch in einer riesigen, bereits eingetrockneten Blutlache. Ihre brünetten Haare sind strähnig und zerzaust. Swensen wirft einen längeren Blick auf die Tote, um sich dann dem bemalten Schnitzaltar zuzuwenden.
    ›Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid‹, steht unter dem Mittelteil der Kreuzigung.
    Ob der Täter sich durch diesen Spruch inspiriert gefühlt hat?
    Quatsch, das ist Zufall!
    Irgendwie erinnern die kunstvollen Schnitzereien den Hauptkommissar an den Witzworter Altar. Nur die Christusfiguren sind hier auffallend kleiner und sie tragen auch keine goldenen Gewänder. Auf dem rechten Seitenflügel gibt es sogar einen ungewöhnlichen Christus, der auf seinem Kreuz sitzt.
    Vielleicht hat der Täter ja so etwas wie einen religiösen Wahn, denkt der Hauptkommissar. Der Tatort sieht fast so aus, als wolle jemand ein Opfer darbringen. Vielleicht gibt es irgendeinen Pfarrer, Küster oder Kirchenmitarbeiter, der völlig durchgedreht ist?
    »Wir sollten unsere Ermittlungen ab jetzt vorrangig auf das kirchliche Umfeld konzentrieren«, spricht Silvia Haman seine Gedanken aus.
    »Ein mordender Pfarrer?«, fragt Mielke ungläubig.
    »Warum nicht?«, mischt Swensen sich ein. »Unter dem Altar steht doch: ›Kommet her zu mir alle‹. Also, gehen wir doch einfach hin und fragen wir mal nach, oder?«

Mai 2003
    Der Sohn möchte, dass alles Böse um ihn herum stirbt, um selbst leben zu können. Denn nur der Tod ist übermächtiger als du, Schattenmutter, du ewige Schuld des Weiblichen. Du hast die Einheit des Sohnes zerrissen und sein Ich ausgehungert. Du hast die unteilbare Welt um ihn herum in Stücke gebrochen, in kleine Brocken, sie zu einem losen Puzzle deines Lebens gemacht, sie für immer verstreut, nicht mehr zusammenfügbar.
    Du hast den Sohn in einem leeren Raum zurückgelassen und hast mit dem tanzenden Wahnsinn deiner Worte seine Seele besetzt. Am Anfang stand dein Wort.
    Höre auf meine Stimme!
    Tu was ich dir sage!
    Du hast den Sohn hervorgebracht und nie mehr losgelassen. Er muss dich jetzt mit sich tragen, ertragen, von Anbeginn seiner Zeit, zeitlos und grenzenlos.
    Dein Wille geschehe hier auf Erden, dein gnadenloser Mutterwille, der in sein Ich gekrochen ist und dem Sohn das Dogma der guten Mutter auf seine Stirn geritzt hat. Satansmutter, du Schlangenreptil. Der Körper des Sohnes rebelliert gegen das tödliche Muttergift und kann doch nicht aus deiner Haut. Der Sohn möchte sich täglich häuten, Mutterschicht für Mutterschicht, und sein Gedärm zetert und tobt bei jedem Versuch.
    Der Sohn kann nicht glauben, dass sein Herz wirklich noch schlägt, in ihm, Schlag für Schlag, im Rhythmus seiner wahnbesessenen Bosheit, dieser vernichtenden Mutterkraft. Sein Herz steht in Flammen, will seinen unfreien Willen verbrennen.
    »Du hast ein schlechtes Herz, mein Sohn!«
    »Du bist böse, tief in dir drin bist du böse!«
    Jeder Atemzug bringt dem Sohn nicht das wirkliche Leben. Alles was von außen kommt, will ihn letztlich vernichten. Er kann seinen Gedanken nicht mehr trauen. Etwas in ihm will die Haut aufritzen, nein, ausreißen, zur klaffenden Wunde, der Mutterriss, um endlich den Beweis zu sehen: Der Sohn hat noch Leben in sich, das rote Leben, das aus ihm herausfließen kann, wenn er die Haut ritzt. Ein Stich, ein Durchstich durch die Beklemmung seines

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