Eidernebel
Herzens. Der Sohn will sich töten, damit er sich selbst gehört. Das Auge des Sohnes ist blind, blind gegenüber dem, was seine Hand machen könnte.
Der Mann sieht das blutige Messer in seiner Hand, sieht wie er es durch den Raum schnellen lässt, es mit Hass hernieder fährt, wieder hochgerissen wird, immer und immer wieder. Er weiß, dass es keine Traumbilder sind, die durch seinen Kopf ziehen, er ist hellwach.
Abrupt hält er mitten im Schreiben inne. Die Hand mit dem Kugelschreiber sinkt auf das Papier, er hebt den Kopf und blickt verstört durch die verschmutzte Fensterscheibe nach draußen. Hinter den hell schimmernden Weiden und grauen Haselnusssträuchern stehen Kühe auf den blassen Marschwiesen, die sich bis an den Horizont ausdehnen und sich mit dem fahlen Licht der Abenddämmerung voll saugen. Ein diffuser Schimmer, dem bald die Nacht folgt.
Neue Worte gären in seinem Kopf, wollen aus ihm herausbrechen. Seine Hand will erneut den Kugelschreiber greifen, doch das Schreiben scheint ihm mit einem Mal zu zahm, viel zu überwacht und bedacht. Er wünscht sich richtig schreiben zu können, einen gewaltigen Text zu verfassen, einen, der mit Hammer und Meisel in einen Stein gehauen wurde. Er möchte explodieren, er möchte, dass das, was er aufs Papier schreibt, ihm endlich Erleichterung bringt, den tiefen Schmerz lindert, der ihn bedrängt und quält so lange er nicht an diesem Ort ist, in seinem Exil, fernab von seinem normalen Leben.
Nur an diesem Ort ist er richtig frei, hier brodeln seine Fantasien, liegen mit ihm auf der Lauer, in den Straßen und Plätzen der Ortschaften. Aber hier spürt er auch das Vakuum, seine schreckliche Erinnerung, die ihn überall und jederzeit überfällt.
Plötzlich sieht er sich hinter dem riesigen Altar an der Wand hocken. Der tote Winkel der Kirche, in dem er sich oft am Sonntagmorgen versteckt hatte. Er hört die Stimme seines toten Vaters sprechen, tief und eindringlich, hört die Geschichte von Jakob, die er seiner Gemeinde gerne erzählte. Jakob, der sich hinter einen mächtigen Stein legte, zum funkelnden Himmel hinaufblickte und in einen tiefen Schlaf fiel. Jakob, der träumte, eine gewaltige Leiter lehnte an dem Stein, neben dem er träumte, eine Leiter, die so hoch war, dass er ihr Ende nicht sehen konnte. Jakob ließ seinen Blick die Leiter hinaufwandern, die bis zum Himmel zu reichen schien. Eine wunderschöne Leiter. Ihre Stufen glänzten im Mondlicht schwarz wie Ebenholz, glänzten im Schein der Sterne. Hell leuchtende Engel stiegen auf der Leiter herab. Und ganz oben, am Ende der Leiter, stand der Herrgott, lächelte Jakob an und sprach zu ihm:
›Jakob, du kennst mich und ich kenne dich. Ich bin der Gott, den auch dein Vater kennt und deine Mutter.‹
Nein! Neiiiin!, schreit eine dröhnende Stimme in ihm.
Mit dem Geräusch des Kugelschreibers, der gehetzt über das Papier schwingt, schreibt er sich in seine Fantasie zurück, Wort für Wort, will er ihr Wesen anklagen, um sie endgültig zu vernichten.
Mutter kennt den Herrn nicht, dieses kriechende Ungeheuer, das mit der gespaltenen Schuld züngelt und den Sohn in ihren Blicken bannte, ihn nicht sein ließ, der er war, ein Sohn, ein Kind. Die Verdammte hat unser heiliges Haus mit Sprengsätzen vermint, hat in alle Ecken ihren tödlichen Terror gelegt und dem Leben ihre Fallen gestellt. Und sie, die unheimliche Mordmutter, saß in der Mitte, Monstrum und Epizentrum in einem, spukte Wortlava und verbrannte damit jede menschliche Regung.
Wie oft hab ich dir das schon gesagt!
Du sollst hier in diesem Haus nichts anrühren!
Alles, was du berührst, geht grundsätzlich kaputt.
Du sollst nichts fallen lassen! Bloß nichts fallen lassen!
Kannst du nicht hören, du dummes Kind!
Willst du es nicht begreifen, oder kannst du es nicht?
DU SOLLST NICHTS FALLEN LASSEN!
Etwas Schweres poltert und rutscht die Treppe hinab, die Himmelsleiter, die zur Musik des Himmels hinaufführt, schlägt mehrmals laut polternd auf die Holzstufen. Der Sohn zuckt zusammen, drückt sich ängstlich an die Wand, hört das laute Stöhnen von Schmerz, nur wenige Meter vor ihm. Es strömt röchelnd in den Raum und will nicht mehr enden. Der Sohn will nicht hören, ist schon tot, gestorben, als die jammernde Stimme der Mutter herabweht, ihre Schritte die Himmelsleiter herunterkommen.
*
Kurz vor der Witzworter Kirche entscheidet Jan Swensen, heute nicht die übliche Strecke über Simonsberg nach Husum zu
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