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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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Christi Geburt mit in der Sonne gebrannten Lehmkugeln beworfen hatten. Aus dieser Kriegswaffe ist dann im Laufe der Zeit die heutige Boßelkugel entstanden. Der Kommissar hatte immer angenommen, die Holländer hätten diese Sportart im 17. Jahrhundert nach Norddeutschland gebracht, nachdem sie vor einer der schweren Sturmfluten in den Norden geflüchtet waren.
     
    Vom Schnaps leicht beschwipst hält Swensen die schwere Kugel noch etwas unbeholfen in der Hand.
    »Wie ich sehe, hast du dich mit der Kloot ja schon vertraut gemacht, Jan«, scherzt Peter Lührs, einer der Witzworter Landwirte. »Ich erklär dir kurz die Regeln und dann kann’s auch gleich losgehen!«
    »Das Ding nennt sich Kloot?«, fragt Swensen mit schwerer Zunge.
    »Genau, das ist eine Holzkugel mit Bleifüllung, circa ein Pfund schwer.«
    »Die älteste verbriefte Kloot stammt übrigens aus dem Jahr 1585«, wirft Claus Ovens, der Geschäftsführer der Witzworter Meierei, mit bedeutender Stimme ein.
    »Dahinten steht unser Bahnwieser«, erklärt Peter Lührs weiter und deutet auf einen Mann, der sich in der Zwischenzeit in vielleicht hundert Metern Entfernung aufgestellt hat und deutlich sichtbar eine Fahne in die Höhe hält. »Der weist uns an, wohin die Kugel geworfen wird. In einem richtigen Wettbewerb gibt es zwei Bahnen, weil dann natürlich zwei Mannschaften gegeneinander antreten, die Guten und die Schlechten.«
    »Die Guten und die Schlechten?«, grinst Swensen ungläubig.
    »Klar! Grundregel Nummer eins, die Schlechten sind immer die anderen«, lacht Claus Ovens.
    »Genau!«, bestätigt Peter Lührs. »Und deswegen wirfst du als Witzworter die Kloot möglichst so weit, dass der Gegner deine Weite auch mit zwei Würfen nicht erreicht. Das gibt dann einen Schott für uns.«
    »Einen Schott?«
    »Das ist ein Punkt, Jan! Wichtig ist es, die vorher festgelegte Strecke mit möglichst wenigen Würfen zu überwinden. Nach deinem Wurf wirft unser nächster Spieler von der Stelle, wo deine Kugel liegen geblieben ist. Und es zählt nicht der Aufprallpunkt, sondern der Trüll.«
    »Trüll?«, echot Swensen verwirrt. »Na das wird ja immer komplizierter.«
    »Der Trüll ist die Strecke, die deine Boßelkugel nach dem Aufprall noch weiterläuft. Also, nach der Hin- und Rückrunde wird die Distanz zwischen den Boßeln abgeschritten, das nennt man übrigens Kiek up. Die Mannschaft mit den meisten Schotts oder dem Kiek up hat dann gewonnen. Alles verstanden?«
    »Nicht die Bohne!«, verneint Swensen.
    »Macht nichts«, sagt Peter Lührs ruhig. »Learning by doing! Vorher gibt es noch einen Kurzen, dann geht alles wie von selbst.«
    Swensen bekommt das zweite Gläschen gereicht und stürzt es mit einem protestierenden Murren herunter. Danach kommt das Zeichen vom Bahnwieser und der Hauptkommissar stellt sich in Position. Er steht einen Moment regungslos, hält die Holzkugel fest in der Hand vor sein Gesicht und versucht sich zu konzentrieren.
    Ein Impuls.
    Jetzt!
    Swensen lässt die Hand sinken, stürmt mit Riesenschritten vorwärts, dreht sich wie ein Diskuswerfer einmal um die eigene Achse und wirft die Kugel mit aller Kraft aus dem Handgelenk nach vorn. Ohne es beabsichtigt zu haben, ist es ihm gelungen, ihr den nötigen Spin zu geben. Wie ein Geschoss nimmt sie eine gekrümmte Flugbahn ein. Nach dem Aufschlag rollt sie noch mindestens zehn Meter über die Wiese.
    »Dreih di nich uem, de Kommissar geiht uem!«, singt Claus Ovens übermütig.
    »Mensch, Jan, das waren mindestens 80 Meter! Herzlich willkommen im Boßelverein Witzwort«, jubelt Peter Lührs und lässt seine rechte Hand mit voller Wut auf den Rücken von Swensen knallen. Der Bann ist gebrochen, von allen Seiten setzt es Geknuffe und Geklopfe. Noch ehe der Hauptkommissar sich wehren kann, hat es schon das dritte Glas Apfelkorn in der Hand und alle stoßen mit ihm an. Er schließt die Augen und schüttet die Flüssigkeit die Kehle hinunter. Als er sich erneut schüttelt, klingelt sein Handy in der Jackentasche. Er greift danach, als wäre es ein Rettungsreifen.
    »Jan Swensen!«
    »Stephan Mielke. Wo steckt du gerade, Jan?«
    »Ich steh auf einer Koppel in Witzwort. Was ist passiert?«
    »Die zweite Leiche, Jan! Wieder in einer Kirche! Osterhever, die St.-Martin-Kirche. Kommst du?«
    »Was! Wieder eine Leiche in der Kirche? Das darf nicht wahr sein!«
    Im Augenwinkel sieht Swensen, wie die Boßelfreunde einer nach dem anderen verstummen und ihn neugierig anstarren. Er drosselt seine Stimme und

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